Markus Koller: Eine Gesellschaft im Wandel. Die osmanische Herrschaft in Ungarn im 17. Jahrhundert (1606-1683) (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa; Bd. 37), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, 226 S., ISBN 978-3-515-09663-8, EUR 36,00
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Die hier zu besprechende Arbeit wurde als Habilitationsschrift im Jahre 2007 an der Ludwig-Maximilian-Universität München angenommen. Sie widmet sich einem sehr spannendem Thema, nämlich der gesellschaftlichen Verfasstheit des osmanischen Ungarns (einschließlich Syrmien und Slawonien) während des 17. Jahrhunderts. Ohne sich ausdrücklich auf die konzeptionellen Angebote des spatial turn zu berufen, steht bei dem Verfasser der Raum durchaus im Vordergrund. Interessanterweise wurde die Region von europäischen Zeitgenossen als menschenleer und von Zerstörung und Niedergang geprägt wahrgenommen. Trotz bewundernswerter Moscheen und Bäder herrschten hier, so die gängige Auffassung, barbarische Türken. Aber auch osmanische Universalgelehrte und Geographen wie Kâtib Çelebi (st. 1657) und Ebu Bekr Dimişki (st. 1691) sahen in dem fernen Ungarn nur ein zu sicherndes Grenzland zum Habsburgerreich. Für die vielfältigen religiösen, ökonomischen und politischen Verflechtungen interessierten sie sich nicht. Dabei existierte noch nicht einmal eine feste Grenze zwischen den beiden Reichen. Eher gab es offene Grenzräume im Sinne einer "Doppelherrschaft". Souveränität basierte in dieser Zeit mehr auf rechtsprechender Gewalt als auf einer territorialen Ausdehnung von Herrschaft. Man kann sich unschwer vorstellen, dass innerhalb der ungarischen nationalen Geschichtsschreibung der Grad der Interaktion zwischen der indigenen Bevölkerung und den fremden Osmanen immer noch zu den umstrittensten Fragen gehört.
Als Zeitrahmen für seine Studie hat Markus Koller die "lange Friedensperiode" vom Frieden von Zsitvatorok (1606) bis zum Ausbruch des "großen Türkenkriegs" (1683) gewählt, eine Epoche, die bisher - vor allem aufgrund der nur spärlich auf uns gekommenen osmanischen Schriftquellen - kaum einmal Gegenstand der Forschung gewesen ist. Auf eine Einleitung und ein erstes Kapitel, in der neben der oben angesprochenen Rezeption des osmanisch-ungarischen Territoriums die Fragestellung offengelegt, der Forschungsstand diskutiert und dem Leser eine kurze historische Hinführung geboten wird, folgen drei Hauptkapitel.
"Der religiöse Raum - Osmanisch-Ungarn im Spannungsfeld religiös-spiritueller Zentren" (72-110) befasst sich mit dem gesellschaftlichen Einfluss der verschiedenen religiösen Institutionen. Die serbisch-orthodoxe Kirche gerierte sich, wie der Verfasser zeigen kann, als Bewahrerin des nemanjidischen Reiches und pflegte daher die Erinnerung an die vorosmanische Zeit. Ihre Klöster entwickelten sich innerhalb des osmanischen Herrschaftsgebietes zu kulturellen Zentren. Daneben erstarkten die reformatorischen Bewegungen vor allem infolge der offensiven katholischen Missionierung im Zuge der 1622 erfolgten Gründung der Congregatio de Propaganda Fide. Dies bedingte eine Veränderung der Zusammenarbeit und des Verhältnisses zwischen den osmanischen Behörden und den lokalen kirchlichen Organisationen. In Ungarn bildeten sich im Laufe der Zeit, wie Koller sehr schön nachweist, verschiedene transkonfessionelle Interessensgruppen heraus. Spannungen zwischen der römischen Amtskirche und den bosnischen Franziskanern führte etwa zu einer situativen Zusammenarbeit mit der osmanischen Verwaltung. Da die Majorität der Muslime in Ungarn ebenso wie die Franziskaner und andere Gläubige aus dem südslawischen Raum stammten, scheint die regionale Herkunft bei der Bildung von Netzwerken eine große Rolle gespielt haben.
Thema des nächsten Kapitels ("Die 'Autonomie' ungarischer Städte - die Erfassung des Raumes durch die osmanische Administration", 111-142) ist die in der ungarischen Historiographie oftmals postulierte Unabhängigkeit städtischer Zentren. Im 17. Jahrhundert übernahmen, so weist Koller überzeugend nach, vielerorts lokale Notabeln immer mehr Aufgaben der osmanischen Provinzverwaltung. In Osmanisch-Ungarn kam diese Funktion in erster Linie den einheimischen christlichen Richtern (bírós) zu. Da es in diesem Gebiet nicht - wie etwa in Bosnien - zu einer starken Islamisierung gekommen war, konzentrierten sich die Muslime auf die Städte und Befestigungen, in denen osmanische Truppen stationiert waren. Die osmanische Administration funktionierte dort durch das subtile Zusammenspiel muslimischer und lokal-christlicher Strukturen. Das Recht, Steuern und Abgaben mit Pauschalsummen zu entrichten, fußte einerseits auf vorosmanischen Praktiken, sollte andererseits aber auch im Zusammenhang mit der Einführung der Steuerpacht durch die Osmanen gesehen werden.
In dem letzten Teil der Arbeit ("Die Durchdringung des Raumes im Zeichen eines gesellschaftlichen Wandels", 143-176) beschreibt der Autor die zunehmende Einbindung des osmanischen Militärapparates in die wirtschaftlichen Strukturen des Reiches und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Provinzen. Janitscharen und Angehörige anderer Armeeeinheiten bemühten sich verstärkt darum, eine möglichst große Zahl von Steuerpächtern unter ihre Kontrolle zu bringen. Darüber hinaus engagierten sie sich in zunehmendem Maße im Handel und im Handwerk. Allerdings konkurrierten sie, Koller gemäß, häufig mit den sipahi (Kavalleristen, Timarinhaber), die infolge von Inflation und Änderungen im Timarsystems in Not geraten waren. Aber auch im Osmanischen Reich hatte sich die Situation grundlegend geändert: Für die höheren Ränge war es zu kürzeren Amtszeiten gekommen, die wiederum längere Wartezeiten auf den nächsten Posten nach sich zogen. Um die Lücken zu füllen, mussten die Amtsinhaber lokale und zentrale Netzwerke aufbauen. Sie versuchten daher, auf die finanziellen Ressourcen in den Provinzen zuzugreifen. Dadurch wurden sie zu Konkurrenten der Angehörigen des Militärapparates. Verschiedene Militär- und Verwaltungsinstanzen traten in Ungarn in Konkurrenz zueinander. Es entbrannte ein Kampf um die lukrativsten Finanzquellen.
Markus Koller hat auf einer sehr schmalen Quellenbasis aufbauend eine wirklich wegweisende Studie zur transkulturellen und hybriden Situation in einem für die europäische Geschichte überaus spannenden Raum geschrieben. Wenn wir die historische Entwicklung Europas verstehen wollen, so sollten wir die multikulturellen sozialen Ordnungen, die über lange Zeiträume hinweg existierten, als Teil der gemeinsamen Vergangenheit akzeptieren: "Der Blicke auf die personelle Zusammensetzung politischer, sozialer, religiöser und ökonomischer Strukturen in den osmanischen Gebieten Ungarns im späten 17. Jahrhundert fördert das Panorama einer Gesellschaft zutage, die in einen Transformationsraum eingebunden war, der auch in anderen Gebieten des Osmanischen Reiches seit dem späten 16. Jahrhundert stattfand. Vor dem Auge erscheint eine Provinz, die sehr wenig mit den Beschreibungen gemein hat, die in zeitgenössischen westeuropäischen Reiseberichten und Traktaten zu finden sind. Deren Autoren beschreiben ein weitgehend 'menschenleeres' Land, das sich in einem wirtschaftlichen Niedergang befand. Jedoch handelte es sich um eine osmanische Grenzprovinz, die in die religiösen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen sowohl des Osmanischen Reiches als auch der frühneuzeitlichen westeuropäischen Staatenwelt eingebunden war und der Gesellschaft Osmanisch-Ungarns ein hohes Maß an sozialer und ökonomischer Mobilität verlieh. Das Osmanische Reich trennte kein 'Eiserner Vorhang' vom christlichen Europa, das Beispiel Ungarns im 17. Jahrhundert zeigt vielmehr, dass es als Teil der frühneuzeitlichen europäischen Staatenwelt anzusehen ist." (182)
Stephan Conermann