Glenn W. Olsen: Of Sodomites, Effeminates, Hermaphrodites, and Androgynes. Sodomy in the Age of Peter Damian, Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval Studies 2011, XIV + 523 S., mit 51 s/w-Abb., ISBN 978-0-88844-176-8, USD 85,00
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Of Sodomites, Effeminates, Hermaphrodites, and Androgynes ist keine Geschichte der Sexualität (oder der Homosexualität), sondern ein Versuch, die Facetten und die Wurzeln dessen zu beschreiben, was sich heutzutage als Sexualität manifestiert. Olsens Studie entfaltet sich zwischen drei Angelpunkten, der Auseinandersetzung mit dem 1980 erschienenem Standardwerk Christianity, Social Tolerance and Homosexuality des amerikanischen Historikers John Boswell, der bildlichen Darstellung gleichgeschlechtlicher Sexualität in französischen und spanischen romanischen Kapitellen und Petrus Damianis berüchtigtem, um 1050 entstandenen Brief 31 (auch Liber Gomorrhianus genannt), der wohl schärfsten mittelalterlichen Verurteilung gleichgeschlechtlichen Verhaltens.
Das Buch besteht aus einer Reihe von durchaus für sich selbst stehenden Einzelstudien zu mittelalterlichen Sexualitäten, zu mittelalterlicher Kultur und Kirchengeschichte und zu historischer Methodologie, die einen goldenen Mittelweg suchen zwischen John Boswells Essentialismus und den vagen und methodologisch oft unsauberen Ansätzen postmoderner Theorie, queer theory und radikalem Konstruktionalismus. Als Alternative bietet Olsen einen Ansatz an, der sowohl Quellenstudien als auch die von ihm behandelten Fragen einerseits konsequent in den jeweiligen historischen Kontexten behandelt und andererseits den gesamten Forschungsstand im jeweiligen Feld berücksichtigt - eine Mammutaufgabe, die dazu führt, dass sein Anmerkungsapparat fast immer ausführlicher ist als der Text. Schon als annotierte Bibliographie und als Literaturbericht wäre Olsens Buch verdienstvoll.
Olsen rekonstruiert zunächst die Geschichte des Begriffs sodomia und liefert dann einen Überblick zum offenen und verschweigenden Sprechen über Sexualität in mittelalterlichen Quellen, wobei zwei sich durch das ganze Buch ziehende Problembereiche andiskutiert werden, nämlich zum einen eine berechtigte Kritik an der Vermutung linearer Entwicklungen eines Diskurses zur Sexualität, zum anderen die Frage, ob sich das Entstehen und die Transformation von Konzepten der Sexualität tatsächlich anhand von Veränderungen in der Terminologie feststellen lassen.
Im zweiten Kapitel schlägt Olsen vor, die zweifellos machtvollen Dichotomien, in denen sich Sexualität manifestiert (machtvoll / machtlos; männlich / weiblich; aktiv / passiv; penetrierend / penetriert; Dominanz / Unterwerfung), nicht als statisches Rahmenwerk zu betrachten, sondern alle Beobachtungen zur Sexualität und insbesondere zu gleichgeschlechtlichem sozialem und sexuellem Verhalten auch gegen diese Dichotomien zu lesen und danach zu suchen, wo sie eben nicht passen. Beispiele hierfür sind die Verurteilung gleichgeschlechtlichen Verhaltens als contra naturam und der asketische Diskurs zur Sexualität; beide lassen sich im Rahmen dieser Dichotomien nicht ausreichend erfassen.
Das nächste Kapitel kehrt zur Frage von Terminologie und Konzeptualisierung von Sexualität zurück und liefert dabei eine Einführung in die Quellengattung mittelalterlicher Bußbücher. Kapitel vier versucht, sich der Frage nach sexueller Identität, einem der Konfliktpunkte zwischen Essentialisten ("gay people in the middle ages") und Konstruktionalisten (d.h. Vertreter der These, dass es keine Homosexualität gab, bevor es den Begriff gab) anzunähern. Olsen tut dies, indem er zunächst auf die Suche geht nach Zeichen einer sexuellen Subjektivität, also einer Wahrnehmung und Reflexion über Sexualität, die über den Akt selbst hinausgeht. Diese manifestiert sich zum Beispiel in pastoraler Literatur zu sexuellen Phantasien. Weiterhin versucht er, anstatt nach einer "gay identity" zu fragen, festzustellen, dass es durchaus an homosozialem Verhalten und möglicherweise auch an sexuellem Begehren orientierte kollektive Identitäten gegeben hat, wie zum Beispiel in den monastischen Zirkeln der karolingischen Reformbewegung, oder auch in höfischer Kultur. Die Einsicht, dass der Blick auf gleichgeschlechtliche Emotionalität und Sexualität Zugang zu einer Vielzahl von Identitäten liefern kann, wenn man die Suche nach einer homosexuellen Identität aufgibt, gehört zu den wichtigsten Resultaten von Olsens Studie.
Der zweite Teil des Buches verwendet Petrus Damianis Brandbrief gegen homosexuelles Verhalten von Priestern als Ausgangspunkt. Fünfmal fragt Olsen, worum es in Petrus Damianis Brief eigentlich geht. Im ersten Versuch verortet er dessen Verurteilung homosexellen Verhaltens in der Tradition kultischer Reinheitsvorstellungen. Danach stellt er die Frage, inwieweit Petrus Damianis Aufruf gegen sodomitische Kleriker ein früher Ausdruck des von Robert Moore postulierten Aufkommens einer "Persecuting Society" sein könnte. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit Damians Einteilung der Sodomie in vier Stufen, der Masturbation, gegenseitiger Masturbation, Coitus in Femoribus und Analverkehr und versucht, die historischen Wurzeln dieser (aber auch anderer) Kategorisierungen sexuellen Verhaltens nachzuzeichnen.
Seine letzten beiden Kapitel analysieren zwei weitere Bezugsrahmen, nämlich die luxuria als vor allem sexuell verstandene Genusssucht, die sich aus der asketischen Tradition, insbesondere derjenigen Johannes Cassians, herleitet, und die Effeminiertheit, verbunden mit der Frage nach dem freien Willen und der Macht über das eigene Begehren.
Olsens Buch ist trotz des ausufernden Anmerkungsapparates überaus lesbar geschrieben und liefert einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher Sexualitäten. Trotzdem bleibt ein etwas seltsamer Nachgeschmack, denn Olsen setzt sich bei aller berechtigten Kritik an Boswell an keiner Stelle mit den von Bigotterie, Heuchelei und Homophobie geprägten Umständen auseinander, in denen Boswell sein Werk verfasst hat. Angesichts der Tatsache, dass Petrus Damianis Denken gerade in den Kreisen pseudo-religiöser Fundamentalisten eine Renaissance erlebt, muss man die Frage stellen, ob man sich dem Thema tatsächlich derart 'neutral' annähern kann wie Olsen es tut. Gerade bei einem Buch, das im Verlag des "Pontifical Institute for Mediaeval Studies" erscheint, hätte es gut getan, wenn Olsen im Vor- oder Nachwort zu den aktuellen kirchlichen Debatten zur Homosexualität deutlich Stellung bezogen hätte.
Anmerkung: Die auf dieser Seite enthaltene Empfehlung, das Buch bei einem Online-Warenhaus zu erwerben, wird nicht von mir unterstützt.
Albrecht Diem