Michael Brauer: Die Entdeckung des 'Heidentums' in Preußen. Die Prußen in den Reformdiskursen des Spätmittelalters und der Reformation (= Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik; Bd. 17), Berlin: Akademie Verlag 2011, 339 S., ISBN 978-3-05-005078-2, EUR 89,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Petr Charvát: The Emergence of the Bohemian State, Leiden / Boston: Brill 2010
Ivan Hlaváček / Alexander Patschovsky: Böhmen und seine Nachbarn in der Přemyslidenzeit, Ostfildern: Thorbecke 2011
Michael Müller-Wille: Zwischen Starigard/Oldenburg und Novgorod. Beiträge zur Archäologie west- und ostslawischer Gebiete im frühen Mittelalter, Neumünster: Wachholtz Verlag 2011
Die von Michael Borgolte betreute Berliner Dissertation steht im weiteren Kontext der seit einiger Zeit intensiv erforschten Problematik der Integration und Desintegration des vormodernen Europa und der spezifischen Rolle, die dabei religiöse Differenzen gespielt haben. Diesem Grundproblem geht Michael Brauer am Beispiel der vom Deutschen Orden im 13. Jahrhundert in die Ökumene der europäischen Christen gezwungenen baltischen Prußen nach. Allerdings interessiert ihn dabei weniger die Frage, ob und in welcher Weise die Prußen auch noch nach ihrer Konversion die Altreligion beibehielten und weiterpraktizierten, das heißt die Faktizität der religiösen Praxis der Bekehrten im 13. bis frühen 15. Jahrhundert, über die den Quellen jener Zeit im Übrigen auch kaum etwas Belastbares zu entnehmen ist. Im Vordergrund seines Erkenntnisinteresses steht vielmehr die Frage, wie die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Gesellschaft des Ordenslandes mit ihnen umgegangen ist, wann und warum im 15. und frühen 16. Jahrhundert (insbesondere auch im Kontext der Reformation) in dieser Gesellschaft ein besonderes Wissen über die Prußen, ihre Bekehrung und ihr vermeintliches Festhalten am Heidentum entstanden ist und welche Funktion diesem Wissen zukam.
Um hier zu Aufschlüssen zu gelangen, überprüft Brauer diskursanalytisch und mit Rückgriff auf drei methodische Werkzeuge der bisherigen "Erforschung des Heidentums" (19) (die Grimm'sche Mythologie, den volkskundlichen und den religionswissenschaftlichen Ansatz) alle verfügbaren Belege, die von einem prußischen "Heidentum" als vermeintlichem Überbleibsel der Altreligion berichten. Im Ergebnis seiner sehr sorgfältigen Untersuchung der Entstehungsbedingungen und Traditionszusammenhänge dieses Wissens (wie es insbesondere in den preußischen Landesordnungen, Diözesan- und Synodalstatuten und der Geschichtsschreibung des 15.-16. Jahrhunderts fassbar wird) gelangt Brauer zu der überzeugenden Feststellung, dass sich die bisherige Vorstellung von einer Fortdauer des "Heidentums" "als irreführend" erweise (12). Vielmehr sei es im 15. Jahrhundert im Zuge der fortschreitenden Verchristlichung der (aus deutschen, polnischen und prußischen Sprechern etwa gleichmäßig zusammengesetzten) Gesamtbevölkerung des Ordenslandes sowie im Kontext innerkirchlicher Reformdiskussionen gewissermaßen zu einer Entdeckung des "Heidentums" durch christliche Beobachter gekommen. Das "Heidentum" der Prußen könne mithin nicht als ein Überbleibsel der alten Religion verstanden werden, das seit dem 13. Jahrhundert sukzessive an Intensität verlor, sondern müsse als ein Novum, ein von den Eliten des Ordenslandes kreiertes Phänomen angesehen werden. Wie Brauer zeigt, entsprang diese Projektion aus der spezifischen Dialektik von Inklusion (Verchristlichung) und Exklusion (Ausgrenzung als vermeintlich "fremd" und "heidnisch", etwa indem zuvor wenig beachtete Festpraktiken als "heidnisch" neu interpretiert wurden). Wenn im Zuge einer verschärften Kirchendisziplin und strengeren Abgrenzung gegenüber Häresie, Ketzerei und Zauberei die einheimischen Prußen als "Heiden" neu entdeckt wurden, so geschah dies mithin nicht zuletzt, um den als gefährdet gedeuteten inneren Zusammenhalt der Christen zu stärken.
Mit diesem Ergebnis wirft die in acht Kapitel (I. Einleitung; II. Grundzüge der Bekehrungszeit; III. Die Religiosität der Prußen wird zum Problem; IV. Zwischen reformacio und Disziplinierung ländlicher Festkultur: Die preußischen Landesordnungen; V. 'Heidnische' Prußen oder prußische Christen? Das preußische Kirchenrecht; VI. Aus Heiden werden Vorfahren: Das Bild der Prußen in der preußischen Geschichtsschreibung; VII. Neue Konfession und neues 'Heidentum': Die Reformation in Preußen; VIII. Schlussbetrachtung) gegliederte Studie auf anregende Weise neues Licht auf ein altbekanntes Thema der preußischen Geschichte und schärft zugleich am preußischen Beispiel ganz allgemein unser Bewusstsein von der "Perspektivität der Quellen zu Heidentum, Magie und Aberglauben in der Vormoderne". [1]
Anmerkung:
[1] Michael Brauer: Erfindung oder Entdeckung? Neue Zugänge zur Erforschung des Heidentums am Beispiel des Preußenlandes im 15. und 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 38 (2011), 185-216, hier 185; der Aufsatz bietet eine knappe Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse des Buches, insbesondere der Kapitel IV-VII.
Eduard Mühle