Anjo G. Harryvan / Jan van der Harst: Max Kohnstamm. A European's Life and Work (= Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften; Bd. 13), Baden-Baden: NOMOS 2011, 186 S., ISBN 978-3-8329-5810-7, EUR 34,00
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Die Geschichte der europäischen Integration kennt die "Gründungsväter" (Konrad Adenauer, Robert Schuman oder Paul-Henri Spaak), die Aachener Karlspreis-Träger (Richard Coudenhove-Kalergi, Winston S. Churchill oder George C. Marshall) sowie die "Ehrenbürger Europas" (Jean Monnet und Helmut Kohl). Neben diesen allseits geschätzten Geehrten und verehrten "Heiligen" und durch nach ihnen benannte Gebäude, Plätze und Straßen im Institutionenbereich der EU in Brüssel, Luxemburg oder Straßburg beständig in Erinnerung gerufenen Persönlichkeiten stehen die "vergessenen Europäer", wie z. B. der erste Kommissionspräsident der EWG Walter Hallstein (1958-1967). Jenseits dieses Blickfelds bewegen sich die gänzlich oder weitgehend unbekannten Europäer, die weder im öffentlichen Bewusstsein, noch von der Historiographie der Integrationsgeschichte in ausreichendem Maße gewürdigt worden sind. Das gilt z. T. sogar für die großen Leute des Fachs wie den Wirtschaftshistoriker Alan S. Milward (1935-2010), der nicht nur von einer politischen Akteursgeschichte wenig hielt, sondern auch die "Heiligenverehrung" belächelte, von den nachrangigen Hintermännern und im Verborgenen arbeitenden Netzwerkern der Politiker ganz zu schweigen. [1]
Einer dieser Lobbyisten für Europa war Max Kohnstamm (1914-2010), Sohn des deutsch-jüdischen Physikers, Philosophen und Pädagogen Philip Kohnstamm (1875-1951), der an der Universität von Amsterdam Geschichte und an der American University in Washington D.C. zur Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik des New Deal unter Franklin D. Roosevelt forschte. Als Mann des studentischen Widerstands wurde Max Kohnstamm von den deutschen Besatzern in den Niederlanden im Durchgangslager Amersfoort und in Gefängnissen in Haaren und St. Michielsgestel festgesetzt. Von 1945 bis 1948 als Privatsekretär von Königin Wilhelmina tätig, arbeitete er anschließend bis 1952 im niederländischen Außenministerium, wo er mit der Umsetzung des European Recovery Program (ERP) und der niederländischen Deutschlandpolitik befasst war. Von 1952 bis 1957 wirkte er als Generalsekretär der Hohen Behörde der Montanunion sowie als Funktionär des "Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa" von Monnet. Dem in Florenz angesiedelten Europäischen Hochschulinstitut (EHI) diente er von 1976 bis 1981 als erster Präsident.
Die beiden an der Universität Groningen tätigen Historiker und Politikwissenschafter Anjo G. Harryvan und Jan van der Harst haben sich dem europäischen Leben und Werk Kohnstamms in dieser nun vorliegenden Studie gewidmet. Als Schüler von Milward hatten sie einige Skrupel zu überwinden, als sie sich ihrem Untersuchungsgegenstand näherten. Es kann jedoch gesagt werden, dass es ihnen im Laufe ihrer weiteren Beschäftigung mit Kohnstamm nicht mehr so schwer fiel, sich von ihrem großen Meister und seiner Schule mit ihrem exklusiven Forschungsschwerpunkt auf sozialen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten der Nationalstaaten und ihrer Bürokratien als Hauptmotivgeber und Motoren der europäischen Integrationsentwicklung zu emanzipieren. Milwards Zugang wurde ihnen mit Blick auf die Arbeiten an der Biografie, Sozialisation und Tätigkeit Kohnstamms immer fragwürdiger. Durch Interviews mit dutzenden holländischen Beamten, Politikern und Offiziellen sowie der Befassung mit vielen anderen gedruckten Quellen ist ihnen die Bedeutung dieses unabhängigen Denkers und Netzwerkers erst voll bewußt geworden. Er war nicht nur von der fundamentalen Erkenntnis geleitet, dass die niederländische Ökonomie der Nachkriegszeit ohne die deutsche Wirtschaft nicht wieder aufgebaut werden konnte (was auch die US-amerikanische Position widerspiegelte), und weit über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) hinaus ein wichtiger Verbindungsmann zu den deutschen Europäern, sondern später nach seiner aktiven Laufbahn auch ein engagierter Teilnehmer an der öffentlichen Debatte über Europa und seiner Integration in den Niederlanden. Kohnstamm war zudem einer der wichtigsten Männer hinter Monnet gewesen.
Das Buch von Harryvan und van der Harst spürt den Interaktionen der Lebensgeschichte Kohnstamms, seiner Karriere und persönlichen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse des Elternhauses, seiner Amerikareise und Studienzeit in den USA in den 1930er Jahren, den Kriegserfahrungen im Widerstand sowie seiner Bedeutung für Monnet im Sinne der intellektuellen Untermauerung dessen Denkens nach. Die wichtigsten Lebensstationen Kohnstamms sind durch Harryvan und van der Harst sehr anschaulich gegliedert, übersichtlich gehalten und auf diese Weise leicht nachlesbar. Für einen ersten Einstieg ist das mit einem Lebenslauf Kohnstamms, Abkürzungs-, Quellen- und Literaturnachweis sowie Personenregister ausgestattete Werk nahezu ideal. Wer noch mehr über diesen faszinierenden Mann erfahren und für die Nachkriegszeit vertiefter in die Materie einsteigen will, kann darüberhinaus zu weiterführender Forschungsliteratur greifen [2].
Anmerkungen:
[1] Vgl. auch Jan van der Harst: When History Meets Theory: Alan Milward's Contribution to Explaining European Integration, in: Fernando Guirao / Frances M. B. Lynch / Sigfrido M. Ramirez Pérez (eds.): Alan S. Milward and a Century of European Change, New York, London 2012, 365-377.
[2] Mathieu L. L. Segers: Tussen verzoening en verval. De nationale standpuntbepaling van de Bondsrepubliek Duitsland gedurende de beraadslagingen en on der handelingen over de Verdragen van Rome, PhD. Wageningen 2006 (als deutsche Übersetzung: Deutschlands Ringen mit der Relance. Die Europapolitik der BRD während der Beratungen und Verhandlungen über die Römischen Verträge. Frankfurt a.M. u.a. 2008); Ders.: De Europese dagboeken van Max Kohnstamm, Augustus 1953 - September 1957, Amsterdam 2008, 7-28; Ders.: Diep Spel. De Europese dagboeken van Max Kohnstamm, September 1957-Februari 1963, Amsterdam 2011, 15-51.
Michael Gehler