Ruth Schilling: Stadtrepublik und Selbstbehauptung. Venedig, Bremen, Hamburg und Lübeck im 16.-17. Jahrhundert (= Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen; Bd. 84), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, IX + 445 S., ISBN 978-3-412-20759-5, EUR 49,90
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Wie hat sich das Verhältnis von Normen und politischen Wertevorstellungen einerseits und symbolischer Kommunikation und Ritualen andererseits historisch gewandelt? Diese Frage gehört zu den zentralen Themen der "Neuen Kultur- und Politikgeschichte", und insbesondere die kulturgeschichtlich ausgerichtete Geschichtsschreibung zur vormodernen Stadt hat sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Verhältnis von (städtischen) Normen und symbolisch-ritueller Repräsentation beschäftigt.
Auch Ruth Schilling stellt dieses Problem in den Mittelpunkt ihrer an der Humboldt-Universität Berlin bei Heinz Schilling entstandenen Dissertation. Dass es ihr gelingt, neue Perspektiven auf diese mittlerweile intensiv erforschte Thematik zu eröffnen, liegt an dem ungewöhnlichen und ambitionierten Zuschnitt ihrer Untersuchung. Zum einen ist sie europäisch vergleichend angelegt, indem Venedig auf der einen und die Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck auf der anderen Seite miteinander verglichen werden. Zum anderen nimmt Schilling unterschiedliche soziale und kommunikative Kontexte der städtisch-republikanischen Gemeinwesen in den Blick, die ansonsten zumeist getrennt behandelt werden. Untersucht wird der Zeitraum von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Schilling stützt sich vornehmlich auf die Auswertung von schriftlichen wie bildlichen Darstellungen und Beschreibungen von Ritualen.
Nach einem einleitenden Kapitel, in dem die konzeptionellen Grundlagen erläutert werden, werden zunächst mit Ratswahl und Amtssetzungen zentrale herrschaftslegitimierende Rituale untersucht, wobei die Frage nach den Möglichkeiten familiärer Selbstdarstellung in politischen Ritualen einen besonderen Fokus bildet. Anschließend wird das spannungsreiche Verhältnis zwischen Magistraten und Geistlichkeit im Blick auf die Ausgestaltung politischer wie religiöser Rituale analysiert. Im vierten Kapitel wendet sich Schilling den städtischen Korporationen und Zünften zu und untersucht deren Rolle innerhalb der rituellen Selbstdarstellung der Städte. Schließlich wird die nach außen gerichtete Repräsentationspraxis der Städte etwa beim Empfang fremder Standespersonen oder in diplomatischen Kontexten thematisiert, bevor im Schlusskapitel allgemeine, die einzelnen Städte und sozialen Kontexte übergreifende Entwicklungstendenzen diskutiert werden.
Schilling gelingt es, eine Geschichte der politischen Kultur und der symbolisch-rituellen Kommunikation in der frühneuzeitlichen Stadt zu schreiben, die wesentliche Bereiche der städtischen Bürger-Gesellschaft erfasst. Indem sie sich nicht nur den politischen Führungsschichten und der Geistlichkeit, sondern auch den Zünften zuwendet, kann sie sozial übergreifende Zusammenhänge und Entwicklungen im Blick auf rituelle Repräsentationspraktiken und symbolische Vergemeinschaftungsformen erfassen. Als zentrale Entwicklungstendenz während des Untersuchungszeitraums wird ein Prozess der politisch-kulturellen Institutionalisierung konstatiert. Dieser umfasst die Verschriftlichung und Normierung von Ritualen sowie die Regulierung des Verhaltens in Ritualen wie auch eine zunehmende Legitimierung von Herrschaft durch Verfahren, die aus der Formalisierung vor allem der Ratswahlen und Amtssetzungen folgte. Darin sieht Schilling eine Form der "Staatsbildung im Inneren auf der Ebene der Korporationen" (370). Darüber hinaus sei es zu einer Stärkung der Einheit von Stadt und Religion und der Vorstellung der Stadt als Sakralgemeinschaft gekommen. Durch den von Schilling konsequent umgesetzten vergleichenden Ansatz kann sie zeigen, dass es sich hierbei um räumlich übergreifende Entwicklungstendenzen handelt, die sich sowohl in Venedig als auch in den Hansestädten beobachten lassen, auch wenn sich diese auf der Ebene der symbolisch-rituellen Praktiken in jeweils unterschiedlicher Weise ausprägten, und zwar gerade auch unter den drei untersuchten Hansestädten.
Alles in allem liest man Schillings Untersuchung mit Gewinn. Jedoch macht es die Autorin dem Leser nicht immer ganz leicht, ihren Ausführungen zu folgen und den roten Faden der Untersuchung zu erkennen. Die Anlage des Buchs bringt es mit sich, dass nicht nur eine Vielzahl an unterschiedlichen Ritualen und symbolischen Handlungen wie (Rats-)Wahlen und Amtssetzungen, Begräbnissen, Umzügen, Prozessionen, Erinnerungsfesten, Strombefahrungen, Empfängen, Huldigungen und anderes mehr untersucht werden, sondern es kommt auch zu einem ständigen Wechsel von Ort und Zeit. Zudem gelingt es der Autorin nicht immer überzeugend, die erhebliche Diskrepanz zwischen dem notwendig abstrakten Analyserahmen und der empirischen Untersuchungsebene zu überbrücken. Hieraus folgt ein gewisser Hang zu komplizierten, theorielastigen Formulierungen, über deren genauen Sinn man sich nicht immer recht klar wird, sowie zu argumentativen Zuspitzungen insbesondere im Schlusskapitel. Letzteres ist durchaus begrüßenswert, ermöglicht es doch eine kritische Auseinandersetzung. Jedoch hat sich dem Rezensenten die Plausibilität einiger Thesen nicht so recht aus der Lektüre erschließen wollen.
So vertritt Schilling etwa die Auffassung, dass es in den untersuchten Städten neben und im Zusammenhang mit den oben genannten Prozessen der politisch-kulturellen Institutionalisierung von Ritualen zu einer zunehmenden Selbstreferentialität der politischen Ordnungsvorstellungen gekommen sei; dies deutet sie als eine "Form der Reaktion auf eine Krise der inneren und äußeren Strukturen [...], die die Stadtrepubliken [um 1600] erlebten" und die "mit der immer größeren Wirkkraft von überstädtischen Vergemeinschaftungsangeboten zusammen[hing]" (368). Dass die untersuchten Städte um 1600 tatsächlich eine solche tiefgreifende Krise erlebten, wird jedoch nur postuliert; und auch die Frage, ob der Zusammenhang zwischen Krise und zunehmender Selbstreferentialität der politischen Ordnungsvorstellungen etwas ist, das kennzeichnend für die Zeit um 1600 war, und wenn ja warum, bleibt unklar - politische Krisen haben die vormodernen Städte ja auch zuvor des Öfteren durchstanden.
Des Weiteren konstatiert Schilling, dass sich zwar die nach innen gerichteten Rituale (auch als Folge einer Veränderung der politischen Wertevorstellungen) während des Untersuchungszeitraums in tiefgreifender Weise wandelten. Dagegen sei es bei den nach außen gerichteten Ritualen bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts zur Etablierung einer "überaus starren" und "undurchdringlichen Fassade" gekommen, weswegen sich diese während des Untersuchungszeitraums auch kaum noch verändert hätten. Dies deutet Schilling als Versuch, die Autonomie der Stadtrepubliken nach außen zu sichern, indem so die komplexen und sich im Wandel befindlichen inneren Verhältnisse und Ausgleichsprozesse verborgen wurden (372-374). Sieht man einmal davon ab, dass hier (wie auch sonst in der Untersuchung) immer wieder eine durchaus irritierende funktionalistische und teilweise auch intentionalistische Beschreibung von Ritualen durchschlägt (man fragt sich des Öfteren, wessen Wille hier eigentlich wirkt), so bleiben die von Schilling konstatierten Unterschiede zwischen den nach innen und den nach außen gerichteten Ritualen zumindest in dieser Zuspitzung doch fraglich: Wurde denn nicht auch den ersteren bereits um 1550 eine überzeitliche, nicht willkürlich veränderbare Form und normative Fundierung zugeschrieben und in diesem Sinne auch 'Fassadenbildung' betrieben, gerade weil es zu dieser Zeit zu einer Normierung und Verschriftlichung der Rituale kam und diese so in ihrer Kontingenz zunehmend sichtbar wurden? Und schließlich ist auch die immer wieder auftauchende, durchaus kausal angelegte Engführung von Wandel bzw. Konstanz politischer Wertevorstellungen einerseits und Wandel bzw. Konstanz symbolisch-ritueller Formen und Praktiken andererseits mit einigen Fragezeichen zu versehen.
Auch wenn man also nicht allen Ausführungen der Autorin folgen wird, so hat Ruth Schilling doch eine Untersuchung vorgelegt, die nicht nur eine Vielzahl an interessanten empirischen Ergebnissen enthält, sondern den Leser gerade durch ihre theoretisch ausgerichtete, zuspitzende und durchaus auch riskante Thesenbildung zu einer intensiven und kritischen Auseinandersetzung anregen kann - man wünschte sich, dass der historische Betrieb hierzulande mehr an solchen Büchern hervorbrächte.
Philip Hoffmann-Rehnitz