Andrew Brown: Civic Ceremony and Religion in Medieval Bruges c. 1300-1520, Cambridge: Cambridge University Press 2011, XIV + 368 S., 10 s/w-Abb.,2 Karten, ISBN 978-0-521-76445-2, GBP 55,00
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Das spätmittelalterliche Brügge war nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und spirituell ein überregional bedeutendes Zentrum. Gleichwohl war Brügge im Mittelalter kein Bistumssitz, sondern dem Bischof von Tournai zugeordnet. Aus diesem Kontext heraus entwickelten sich spezifische Formen religiöser Praktiken, die Andrew Brown in seiner Studie vor allem für das 15. Jahrhundert untersucht. Schwerpunkte seines Interesses sind die Zeremonien wie etwa Prozessionen und ihre Interpretation als Ausdrucksform der städtischen Gesellschaft sowie die in diesen Prozessionen sinnfällig gezeigten Beziehungen zwischen der Stadt und den Grafen von Flandern.
In der Einleitung (1-36) skizziert Andrew Brown die topographische Struktur der Stadt, die über den Sitz der Grafen von Flandern, die Stätten der Stadtregierung (Scepenhuis, Belfried und Waterhalle) und das St. Donatianusstift über mehrere Zentralorte verfügte. Kurz vor 1300 wurde die Stadt befestigt. Die Sakraltopographie innerhalb der Stadtmauern und die Stadtmauern selbst waren wesentliche Stationen der Heilig-Blut-Prozession (ommeganc), die 1291 erstmalig sicher belegt ist und seit 1303 mit städtischen finanziellen Mitteln unterstützt wurde. Die Teilnehmer an der Prozession wurden gemäß ihrer Zugehörigkeit zu den über 50 beteiligten Gilden gruppiert; die Reihenfolge der Gilden untereinander entsprach grundsätzlich ihrem Rang in der städtischen Hierarchie. Hatten sich hierbei im Laufe der Zeit Verschiebungen ergeben, kam es zu Aushandlungsprozessen, die eine Anpassung nach sich zogen. Bildete die Reihenfolge bei der Prozession die städtische Ordnung ab, so wurde diese wohl dennoch nicht als Machtinstrument einer städtischen Oligarchie begriffen (54). Die Heilig-Blut-Prozession (Kapitel 1, 37-72) war also von der städtischen Gesellschaft geprägt und hatte Rückwirkungen auf diese. Die Stadt investierte immer umfangreichere Mittel in die Durchführung; wenn städtische Gelder nicht zur Verfügung standen, sprangen die Gilden bei der Finanzierung ein (42-44), wie sie auch sonst immer wieder Gelder zur Verfügung stellten und ihre Vertreter zu Gottesdiensten anderer Gemeinschaften entsandten, woraus sich ein dichtes Netzwerk karitativer Natur ergab (ausführlich hierzu Kapitel 6: Civic charity, 195-221).
Die Vorgehensweise des Autors geht nicht von theoretischen Paradigmen aus und widmet sich auch weniger dem Aufführungscharakter der von ihm untersuchten Praktiken. Seine Quellen sind ganz wesentlich die in Brügge heute einsehbaren Archivalien (Bischoppelijk archief, Rijksarchief, Stadsarchief), und die Argumentation basiert auf einer minutiösen Auswertung dieser Urkunden, Listen und Rechnungen. Durch diese bei einem solchen Thema zunächst überraschende Vorgehensweise gelingt es Brown, über prosopographische Studien den sozialen Hintergrund der einzelnen Gilden zu ermitteln und so auf das Prestige der Mitgliedschaft in bestimmten Verbindungen zu schließen (etwa im Kapitel 5, Guilds and civic government, 167-194). Als weitere Quellengattung nimmt er, weit weniger intensiv, die regionale und burgundische Historiographie in den Blick sowie die theologisch-didaktischen Texte des Anthonis de Roovere.
Ein Abschnitt über Art und Umfang der archivalischen Überlieferung, ihre spezifischen Lücken und deren Konsequenzen für die Auswertung fehlt. Vereinzelte Bemerkungen (etwa 76 Anm. 8, 102) über Ausfälle in den Archivbeständen lassen die Frage aufkommen, ob die von Säulendiagrammen (76, 80, 83, 85, 86, 102, 104, 199, 204) suggerierte Evidenz über die Zahl von Prozessionen, Stiftungen und dergleichen nicht zweifelhaft ist. Der überaus intensiven Auseinandersetzung mit den meist ungedruckten Quellen steht eine sehr viel lückenhaftere Auswertung der reichlich vorhandenen Literatur gegenüber. Das Literaturverzeichnis (336-350) ist durchaus umfangreich, jedoch werden in den Fußnoten oft Monographien ohne Angaben von Seitenzahlen summarisch angeführt, und gerade bei einer Publikation zum Bereich des spätmittelalterlichen Gildenwesens in Flandern ist es erstaunlich, dass die Namen Marc Bloch, Hans van Werveke, Adriaan Verhulst, Otto Gerhard Oexle und Jean Lestocquoy kein einziges Mal vorkommen, wie überhaupt die deutsche und französische Forschung nur punktuell herangezogen wurden.
Prozessionen im spätmittelalterlichen Brügge waren religiös motiviert, aber von der Stadt geprägt. Auf diese Weise wurden sie auch als Vehikel für öffentliche Handlungen genutzt: Straftäter wurden zur Teilnahme im Büßergewand verurteilt (84). Gleichzeitig gehorchten die Prozessionen einem klaren Ablaufplan, der auf biblische und römische Vorbilder zurückging. "Correct imitation of God's chosen people, in action and mind, would best achieve the supplicatory purpose required" (91). Die Kanoniker von St. Donatian verfügten hierbei über erhebliche Mitsprachemöglichkeiten, da sie ihre Reliquien als Druckmittel zurückhalten konnten (94). Dies betrifft nicht nur die Heilig-Blut-Prozession, sondern auch viele andere Umzüge. Der wohl um 1483 angelegte Liber planarius von St. Donatian als Festkalender und Totenbuch ist hierfür eine ergiebige, wenn auch späte Quelle (103).
Die Herzöge von Burgund, die im 15. Jahrhundert die Grafschaft Flandern erworben hatten, vor allem Philipp der Gute und Karl der Kühne, pflegten aufwendigere Formen der Repräsentation als ihre Amtsvorgänger, was sich auch auf die Ausgestaltung der Prozessionen auswirkte (239). Die Herzöge von Burgund respektierten den 3. Mai als Tag der Heilig-Blut-Prozession und nahmen auch immer wieder an diesem Ereignis teil (223), allerdings, wie der Autor betont, nicht als gestaltende Akteure, sondern eher als Zuschauer (225). Nach einer dreimonatigen Gefangenschaft des Habsburgers Maximilian 1488 in Brügge infolge eines Aufstands wurden ihre Besuche allerdings seltener. Ihre Einzüge in der Stadt wurden mit der Aufstellung von Bildern und der Aufführung von einzelnen Szenen ebenfalls aufwendig gestaltet; an dieser Stelle waren durch die Auswahl der Sujets auch aktuelle Bezüge möglich. Der Einzug Philipps des Guten 1440 nach dem Ende des Aufstands von 1436-1438 stilisierte den Herzog als Messias, ließ Brügge aber gleichzeitig als Abbild Jerusalems erscheinen (241).
Die Vielzahl der im städtischen Raum getätigten Stiftungen führt Andrew Brown darauf zurück, dass in Brügge mehr ökonomisches Kapital, aber auch mehr soziale Konkurrenz als anderswo vorhanden gewesen sei (288). Gegen Ende des 15. Jahrhunderts geriet die Stadt allerdings in eine finanzielle Schieflage, die Einwohnerzahl sank und wurde nicht wie zuvor durch Zuwanderung wieder ausgeglichen. Die Folgen waren Hausleerstand in großem Ausmaß und daraus folgend das Versiegen der für Stiftungszwecke gedachten Zinseinnahmen (290-292).
Eine Reihe von Appendices über die Reihenfolge der Gilden bei der Heilig-Blut-Prozession 1421 und 1567 (dem Jahr der frühesten Beschreibung durch Joost de Damhouder), Stiftungen von Festtagen und die Anbindung von Gilden und Bruderschaften an die Kirchen Brügges beschließen den sorgfältig redigierten Band, der durch die außerordentlich quellennahe Vorgehensweise des Autors bleibenden Wert haben wird.
Julian Führer