Bernhard Brenner: Normen und Reformen in ostschwäbischen Augustiner-Chorherrenstiften. Ihre Bedeutung für Ordensverfassung und Selbstverständnis (= Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben; Bd. 40), Augsburg: Wißner 2011, X + 485 S., ISBN 978-3-89639-847-5, EUR 26,80
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Die Geschichte der Augustiner-Chorherren von den Anfängen während der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts bis zum Zusammenschluss der verbliebenen Konvente zur Konföderation der Augustiner-Chorherren 1959 ist durch ein spannungsvolles Neben- und Nacheinander verschiedener Formen der Verbandsbildung gekennzeichnet. Dabei reicht das Spektrum von autonomen Einzelkonventen unter bischöflicher oder adliger Herrschaft über mehr oder minder locker gefügte Zusammenschlüsse von unterschiedlicher regionaler Ausstrahlung bis hin zu den dynamischen, institutionell gefestigten Reformverbänden des späten Mittelalters. Unter diesen war unter anderem die Windesheimer Kongregation mit ihren zentralisierten Leitungsstrukturen am weitesten auf dem Wege zum Ordensverband vorangeschritten. Gerade aufgrund dieser Vielfalt ist die Geschichte der Augustiner-Chorherren im Mittelalter, vor allem aber in der Frühen Neuzeit bislang nur punktuell unter verschiedenen Aspekten genauer untersucht; von einer Gesamtsynthese ist die Forschung allerdings noch weit entfernt.
Die vorliegenden Arbeit, die 2009 von der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen wurde, schließt an zahlreiche neuere Publikationen an, die sowohl die verschiedenen Prozesse der Verbandsbildung im "ordo canonicus" herausstellen als auch die zahlreichen süddeutschen Augustiner-Chorherrenstifte näher beleuchten, deren Geschichte im Mittelalter und vor allem in der Frühen Neuzeit im Gegensatz etwa zu den Windesheimer Konventen im nördlichen Deutschland noch zahlreiche weiße Flecken aufweist. Der Verfasser versucht, diese Lücke teilweise und regional begrenzt zu schließen und dazu "verbindende Faktoren im Bereich der Ordensdisziplin, einerseits bei ihren normativen Grundlagen, andererseits bei ihrer Umsetzung in der Ordensreform, nachzuweisen [...]" (IX).
Diese werden sowohl vor dem breiten Horizont der gesamten Entwicklung der regulierten Chorherren als auch aus einem planvoll und geschickt begrenzten regionalen Blickwinkel analysiert: Als konkrete Beispiele für Normen und Reformen dienen drei Augustiner-Chorherrenstifte des Bistums Augsburg, nämlich die in der Bischofsstadt selbst gelegenen Konvente Heilig Kreuz und St. Georg sowie das seit 1566 reichsunmittelbare Stift Wettenhausen. Die Darstellung der Geschichte dieser drei Häuser auf der Basis ihrer zumeist ungedruckten urkundlichen und historiographischen Überlieferung vor dem Hintergrund der gesamten Regularkanonikerbewegung im süddeutschen Raum nimmt den ersten Hauptteil der Arbeit ein (13-110).
Anschließend nimmt der Verfasser verschiedene "normative Texte als Grundlagen der Stifts- und Ordensverfassung" (111-247, hier 111) in den Blick. Neben der komplexen Entwicklung der als "Augustinusregel" bezeichneten Texte stehen vor allem die in den drei oberschwäbischen Stiften befolgten normativen Texte im Mittelpunkt. Während Wettenhausen die Statuten aus dem elsässischen Marbach übernahm, orientierten sich die Augsburger Häuser an der Raudnitz-Indersdorfer Reformgruppe und übernahmen dabei die Reformstatuten des Kardinallegaten Branda Castiglione. Die Rezeption und Aktualisierung dieser Texte wird in den drei Stiften bis zur Säkularisation verfolgt; bemerkenswert ist dabei der Versuch des gelehrten Pollinger Chorherrn Eusebius Amort, neue Generalstatuten für die Augustiner-Chorherren im Bistum Augsburg zu konzipieren, wofür er auf seine genauen Kenntnisse der Statutentradition zurückgreifen konnte. Andere das Konventsleben normierende Textgattungen wie etwa Liturgica sind jedoch nicht berücksichtigt.
Im letzten Hauptteil (249-368) beleuchtet der Verfasser "Reformen auf Ordens-, Bistums- und Stiftsebene" (249), wobei der erstere Abschnitt mit dem IV. Laterankonzil von 1215 einsetzt und mit den Reformen im Anschluss an das Trienter Konzil schließt. Die Reformmaßnahmen der Augsburger Bischöfe und der Stifte selbst werden wiederum an den drei genannten Konventen exemplifiziert. Ein umfangreicher tabellarischer Anhang, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Personenregister beschließen den Text.
Insgesamt ist das Buch planvoll und geschickt aufgebaut. Sowohl die Ausgriffe in die Geschichte des Regularkanonikertums, der Augustinusregel und der einzelnen Konstitutionen als auch die exemplarische Behandlung der drei ausgewählten Häuser zeigen die souveräne Beherrschung des methodischen Rüstzeugs. Insbesondere bei der detaillierten Analyse des weithin ungedruckten Quellenmaterials aus Augsburg und Wettenhausen hat der Verfasser wichtige und bemerkenswerte Fortschritte erzielt. Wenn die Arbeit jedoch insgesamt nicht völlig zu überzeugen vermag, so ist das dem zentralen, bereits im Untertitel erscheinenden Leitbegriff des "Ordens" geschuldet, der nicht genauer erläutert, definiert oder abgegrenzt wird. Gerade weil der schillernde mittelalterliche Begriff "ordo" über ein breites, vor allem auch juristisch konnotiertes Bedeutungsspektrum verfügt (auf das der Verfasser zu wenig und nur punktuell eingeht), ist seine ständige Wiedergabe mit dem definitorisch anders und enger geführten deutschen Begriff "Orden" außerordentlich problematisch. Die Forschung hat mehrfach eindringlich vor seiner unreflektierten, pauschalen Anwendung auf Religiosengemeinschaften und -verbände wie die Augustiner-Chorherren - die ungeachtet eigener Beschreibungskategorien wie "ordo canonicus" u. a. eben nicht oder allenfalls in regional begrenzten, wechselnden "Aggregatzuständen" über die zentralen Einrichtungen eines Ordens verfügten -, gewarnt. [1] Das zwingt den Verfasser dazu, bereits in der Einleitung ein negatives Ergebnis zu formulieren: "Ungeachtet aller im folgenden geleisteten und ferner noch zu leistenden Bemühungen werden sich die Augustiner-Chorherren nicht als zentralistisch organisierter und institutionell verfestigter 'Orden' im engeren wissenschaftlichen Sinn ausmachen lassen." (9) Dass nicht nur die süddeutschen Regularkanoniker dessen ungeachtet ein aus der Augustinusregel und anderen normativen Texten gespeistes "[...] gemeinsame[s] Selbstverständnis [...]" (396) besaßen, ist bereits mehrfach nachgewiesen worden [2] und bleibt als Hauptergebnis angesichts des betriebenen analytischen Aufwandes zu gering.
Anmerkungen:
[1] Joachim F. Angerer: Zur Problematik der Begriffe: Regula - Consuetudo - Observanz und Orden, in: SMGB 88 (1977), 312-324; Gert Melville: Zur Semantik von "ordo" im Religiosentum der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Lucius II., seine Bulle vom 19. Mai 1144, und der "Orden" der Prämonstratenser, in: Irene Crusius / Helmut Flachenecker (Hgg.): Studien zum Prämonstratenserorden (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 185, Studien zur Germania Sacra; 25), Göttingen 2003, 201-224.
[2] Gert Melville / Anne Müller (Hgg.): Regula Sancti Augustini. Normative Grundlage differenter Verbände im Mittelalter (Publikationen der Akademie der Augustiner-Chorherren von Windesheim; 3), Paring 2002.
Bertram Lesser