Pim den Boer / Heinz Duchhardt / Georg Kreis u.a. (Hgg.): Europäische Erinnerungsorte 1. Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München: Oldenbourg 2011, 333 S., ISBN 978-3-486-70418-1, EUR 39,80
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Pim den Boer / Heinz Duchhardt / Georg Kreis u.a. (Hgg.): Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa, München: Oldenbourg 2012, 626 S., ISBN 978-3-486-70419-8, EUR 49,80
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Pim den Boer / Heinz Duchhardt / Georg Kreis u.a. (Hgg.): Europäische Erinnerungsorte 3. Europa und die Welt, München: Oldenbourg 2012, 290 S., ISBN 978-3-486-70822-6, EUR 39,80
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Heinz Duchhardt / Karl Teppe (Hgg.): Karl vom und zum Stein: der Akteur, der Autor, seine Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, Mainz: Philipp von Zabern 2003
Heinz Duchhardt (Hg.): Stein. Die späten Jahre des preußischen Reformers 1815-1831, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007
Heinz Duchhardt: Friedens-Miniaturen. Zur Kulturgeschichte und Ikonographie des Friedens in der Vormoderne, Münster: Aschendorff 2019
Bekanntlich hat die historische Erforschung der Erinnerungskulturen seit nunmehr drei Jahrzehnten Konjunktur. Ausgehend von Frankreich und den mittlerweile zum Standardwerk gewordenen "Lieux de Mémoires", die ab 1984 unter der Leitung von Pierre Nora veröffentlicht wurden, hat sich dieses historiographische Feld immer mehr ausgeweitet. Erinnerungskulturen und Erinnerungsorte sind dabei in unterschiedlichen räumlichen Maßstäben untersucht worden, sei es auf der städtischen oder auf der globalen Ebene. Umso auffallender ist die bisher zu konstatierende Zurückhaltung der historischen Forschung den europäischen Erinnerungsorten gegenüber, selbst wenn Versuche in diese Richtung in den letzten Jahren unternommen worden sind. [1] Eben diese Lücke haben die Herausgeber der drei zu besprechenden Bände zu füllen versucht, ohne dabei irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
In der knappen (sechsseitigen) Einleitung werden die europäischen Erinnerungsorte definiert als "solche Phänomene [...], denen bereits in der Zeit ihrer Genese das Bewusstsein der Zeitgenossen innewohnte, europäisch dimensioniert zu sein", was zu der vertieften Untersuchung der europäischen Vermittler und Vermittlungswege führt (I, 9-10). Die drei Bände behandeln also respektive "die Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses", "das Haus Europa" und "Europa und die Welt". Die beiden ersten Bände sind gleichmäßig in sechs Rubriken gegliedert ("Mythen", "gemeinsames Erbe", "Grundfreiheiten", "Raum Europa", "Kriegserfahrung und Friedenssucht", "Wirtschaftsraum Europa"), wozu noch eine siebte Rubrik ("Metaphern, Zitate, Schlagworte") im zweiten Band kommt, während der dritte Band nacheinander "Grundbegriffe", "Konzepte" und "Fallstudien" thematisiert.
Wie man sieht, weist das Gesamtwerk einen relativ stark ausgeprägten begriffsgeschichtlichen Zug auf. Insbesondere im ersten Band werden Essays vorgelegt, die die Relevanz verschiedener Begriffe für die Konstituierung einer europäischen Identität erwägen: Es sei hier auf die Beiträge über "Konzept Europa", "Gewaltenteilung", "Grenzen", "Friedensvisionen" oder "Europas Wirtschaftsbegriff" hingewiesen. In manchen anderen Fällen behandeln informierte und sehr gut lesbare Essays die Geschichte eines bestimmten Themas, ohne dass der Bezug zur (doppelten) Problematik der europäischen Erinnerungsorte klar erkennbar würde ("Aufklärung" [I, 147-161], "Europa der Kriege" [I, 275-284], "Pizza und Pizzeria" [II, 319-326], "Toleranz" [II, 337-345]). Leider spitzt sich diese Tendenz in manchen Artikeln zu, in denen kein Wort zur Problematik der Erinnerungsorte gesagt wird ("Pariser Vorortverträge" [II, 505-515]).
Dass die Aufsätze von der Fragestellung her sehr heterogen sind, versteht sich von selbst in einem Werk, das 151 Beiträge einschließt. In dieser Hinsicht zeichnet sich der umfangreiche zweite Band durch die deutliche Nähe der meisten seiner Aufsätze zur Problematik der europäischen Erinnerungsorte aus. Das gilt zunächst einmal, wenn die Anwesenheit eines europäischen Erinnerungsortes nicht von Anfang an postuliert, sondern kritisch beleuchtet und hinterfragt wird. Zum Beispiel zeichnet der Beitrag über "Drittes Rom" (II, 291-298) die Entstehung und Entwicklung der Vorstellung von Moskau als drittes Rom sorgfältig nach, um dann zu betonen, dass es sich hier um einen russischen, möglicherweise "teileuropäischen" Erinnerungsort handelt, der aber Anlass zu unterschiedlichen Wahrnehmungen gibt. Derjenige zu "Antemurale Christianitatis" (II, 73-81) untersucht, wie aus einer Denkfigur im Zuge literarischer und künstlerischer Bearbeitungen ein Erinnerungsort entsteht. Dieser Ansatz gilt insbesondere für stark rezeptionsgeschichtlich ausgerichtete Aufsätze über kunst- oder literaturhistorische Themen, zum Beispiel Dantes "La Divina Commedia" (II, 201-209), Shakespeare (II, 211-219), Homer und Troja (II, 189-200), Rom (II, 263-279).
Einige der eben angeführten Beispiele zeigen, dass diese drei Bände insgesamt nicht auf Westeuropa zentriert sind: Russland, Osteuropa, und der Komplex Osmanisches Reich / Türkei werden behandelt, im letzten Fall unter anderem in einem sehr anregenden Beitrag über Istanbul, der parallel die Erinnerungskultur in der Stadt und ihren Stellenwert in der europäischen Erinnerung untersucht. Trotzdem sind hinsichtlich der räumlichen Dimension der ausgewählten Erinnerungsorte Unterscheidungen vonnöten. Denn entgegen der in der Einleitung proklamierten Absicht, nur Erinnerungsorte mit gesamteuropäischer Relevanz zu behandeln, gelten viele Erinnerungsorte nur für einen Teil von Europa. Außer dem schon erwähnten Beispiel von Moskau als drittem Rom ist dies beispielsweise der Fall für konfessionsbezogene Themen ("Wittenberg und Genf" [II, 281-289]), oder für Orte, die eng mit einem besonderen Land verbunden sind ("der Louvre" [II, 161-166]).
Insbesondere im Fall der Orte, die sich auf Kriegserfahrung beziehen, kann man feststellen, dass nur wenige Schlachten eine eigentlich europäische Dimension hatten, waren doch viele von ihnen für nur einen Teil von Europa bedeutend (zum Beispiel "Messolonghi" [II, 431-436] für Griechenland, "Verdun" [II, 436-444] bzw. "Coventry" [II, 455-463] für Westeuropa) - wobei andere Lemmata hätten ausgewählt werden können (Sarajevo oder Stalingrad). Der Geltungsraum einer Erinnerung war aber nicht einmal für alle festgeschrieben: Der Beitrag über die "Schlacht am Kahlenberg 1683" [II, 413-419] hebt zum Beispiel hervor, dass die Zeitgenossen sich der europäischen Dimension dieses Ereignisses sehr bewusst waren (wobei die osmanische Sicht auf dieses Ereignis ebenfalls geschildert wird), bevor die Dimension dieser Schlacht als Erinnerungsort ab dem 19. Jahrhundert immer mehr auf Österreich beschränkt wurde.
Eine andere Abweichung vom ursprünglichen Programm ergibt sich aus der Einbeziehung nichteuropäischer Erdteile. Die Beiträge über "Das chinesische Restaurant" (III, 215-221) "Völkerschauen / Zurschaustellungen" (III, 165-171) etwa rekonstruieren die Geschichte ihres jeweiligen Themas sowohl in Europa als auch in Amerika, ohne dass herausgearbeitet wird, dass es sich um spezifisch europäische Erinnerungsorte handelt. In einigen anderen Beiträgen geht es eigentlich um Aspekte der Beziehungen zwischen Europa und den anderen Erdteilen, so dass der eigentliche Untersuchungsgegenstand des Gesamtwerks allmählich verschwimmt ("Musik: Interkontinentale Verflechtungen" [III, 107-113], "Der literarische Spiegel: Afrika und Europa" [III, 115-126], "Theologie der Befreiung" [III, 135-141]). Im Beitrag über die "Auswanderung nach Amerika" [III, 223-233] werden Museen erwähnt; aber diese "bedienen vor allem auch die 'Erinnerungen' einer amerikanischen Klientel" [III, 232], so dass der Bezug zur europäischen Erinnerungskultur auch hier verloren geht.
Gewiss können die europäischen Erinnerungsorte nicht von der Außenwelt abgetrennt untersucht werden, weil Europa mit den anderen Weltteilen immer mehr verflochten ist. Genau in dieser Hinsicht legen einige Beiträge besonders überzeugend dar, wie ein europäischer Erinnerungsort im Zuge dieser Verflechtungen entstanden ist. Exemplarisch wird im Aufsatz über "Anne Frank" [II, 345-352] herausgearbeitet, dass Anne Frank erst über die Inszenierung des berühmten Tagebuchs in den Vereinigten Staaten ab den 1950er Jahren zu einem europäischen Erinnerungsort geworden ist. Demgegenüber sind viele der im dritten Band vorgelegten Fallstudien in dieser Hinsicht enttäuschend, weil sie den eigentlichen Untersuchungsgegenstand nur nebenbei behandeln. Der Eindruck, dass die Auswahl der Themen dieser Rubrik etwas Willkürliches hat, wird darüber hinaus dadurch erhärtet, dass einige Aufsätze stark auf Deutschland zentriert sind ("Max Weber und Japan" [III, 235-241], "Kolonialismus und ethnographische Sammlungen in Deutschland" [III, 173-185], "'Deutscher Geist', 'Deutsche Wissenschaft' und die Lateinamerika-Forschung" [III, 195-205]), und somit - unabhängig von ihrer intrinsischen Qualität - mit dem Gesamtthema nur lose verbunden sind.
Nichtsdestoweniger ist den Herausgebern positiv anzurechnen, dass sie die Verflechtungen zwischen Europa und den anderen Erdteilen berücksichtigt haben. Trotz einiger überraschender Behauptungen - "Die Vorbevölkerung Australiens und Amerikas trennte ein gewaltiger Entwicklungsabstand von den Europäern. Sie lebte noch in der Steinzeit" ("Expansion", [III, 31]) - vermeidet das Werk jeglichen Eurozentrismus, sondern macht diesen vielmehr zum Untersuchungsgegenstand - so in den Beiträgen "Orientalismus" (III, 39-44), "Rassismus" (III, 45-51), "Postkolonialismus" (III, 53-62).
Was die zeitliche Spanne der gewählten Themen angeht, ist sie ebenfalls sehr breit, und umfasst 2500 Jahre - von der griechischen Antike ("Antigone" [II, 49-55], "Marathon" [II, 57-63]) bis zur einer sozusagen aktuellen Zeitgeschichte ("Die KSZE" [II, 517-524], "Der Euro" [II, 551-561]). Die Behandlung dieser zeitgeschichtlichen Themen erweist sich aber als schwierig, insofern als - vermutlich wegen mangelnder zeitlicher Distanz - ihre Dimension als europäische Erinnerungsorte kaum herausgearbeitet wird. In der Tat bestätigen diese Beiträge einen Eindruck, der sich - insbesondere im ersten und dritten Band - dem Leser häufig aufdrängt: Es geht eigentlich in diesem Gesamtwerk weniger um europäische Erinnerungsorte im strengeren Sinne als um die Herausarbeitung einiger Momente, die für Europa einheits- bzw. identitätsstiftend wirken (könn[t]en). Diese Suche nach den Spuren einer in den letzten Jahren in Frage gestellten europäischen Identität ist vielleicht der Grund dafür, dass dieses Werk in seiner Themenauswahl als ein Kind seiner Zeit erscheint. Auffallend ist nämlich, dass sehr wenige Beiträge sich auf den Kalten Krieg beziehen. Vergeblich wird der Leser nach Aufsätzen über die Berliner Mauer bzw. Berlin, oder den Eisernen Vorhang suchen. Das ist umso erstaunlicher, als andere Erinnerungsorte thematisiert werden, die - so die Autoren der jeweiligen Beiträge - mit der Zeit einen gewissen Niedergang erlebt und daher an Bedeutung für die europäische Identität verloren haben - zum Beispiel die "Bartholomäusnacht" (II, 403-411) oder "die Völkerschlacht bei Leipzig" (II 421-430).
Bei der Themenauswahl sind auch einige Felder vernachlässigt worden: Zwar sind alltagsbezogene Aufsätze (etwa zu Kolonialwaren oder zum chinesischen Restaurant) vertreten, doch wurden sportgeschichtliche Themen (etwa die Olympischen Spiele in Berlin bzw. in München oder in Moskau, die Heysel-Tragödie) ausgeblendet, was auch für andere Aspekte der "populären Kultur" (Filme, Comics) gilt.
In formaler Hinsicht weist dieses imponierende Werk leider einige Unzulänglichkeiten auf: Auf Fußnoten wurde verzichtet; umso bedauerlicher ist es, dass die an fast jeden Aufsatz anschließenden Literaturhinweise nicht immer vollständig sind (insofern als einige im Text zitierte Historikerinnen und Historiker nicht aufgeführt werden), was die vertiefende Lektüre erschwert. Außerdem sind die schwarz-weißen und oft kleinformatigen Abbildungen dem Inhalt der Texte nicht immer angemessen.
Resümierend ist festzustellen, dass diese drei Bände häufig zwischen eigentlicher Untersuchung bestimmter europäischer Erinnerungsorte im strengen Sinne einerseits und allgemeiner Behandlung der Merkmale einer europäischen Identität andererseits oszillieren. Dass es hier nicht zuletzt um eine Art europäischer Selbstvergewisserung geht, erscheint also recht offensichtlich. Wollte man deswegen aber Kritik an den Herausgebern üben, würde man es sich allzu leicht machen, denn wer sieht nicht ein, dass heutzutage die europäische Konstruktion weit weniger als die historische Erinnerungsforschung floriert? Diese drei Bände sind also als ein erstes Etappenwerk anzusehen - wie es ja die Herausgeber in ihrer Einleitung beanspruchen - und haben als solches das doppelte Verdienst, Meilensteine zu setzen, die zu weiteren Forschungen einladen, und gleichzeitig dem Leser zahlreiche gründlich recherchierte, anregende und gewinnbringende Aufsätze anzubieten.
Anmerkung:
[1] Zum Beispiel: Kirstin Buchinger / Claire Gantet / Jakob Vogel (Hg.), Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt am Main 2009; Étienne François / Thomas Serrier, Lieux de mémoire européens, Paris 2012.
Guillaume Garner