Gerhard Lutz / Angela Weyer (Hgg.): 1000 Jahre St. Michael in Hildesheim. Kirche - Kloster - Stifter (= Schriften des Hornemann Instituts; Bd. 14), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2012, 416 S., 241 Farb-, 50 s/w-Abb., ISBN 978-3-86568-767-8, EUR 39,95
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Gerhard Lutz: Das Bild des Gekreuzigten im Wandel. Die sächsischen und westfälischen Kruzifixe der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2004
Peter Barnet / Michael Brandt / Gerhard Lutz (eds.): Medieval Treasures from Hildesheim, New Haven / London: Yale University Press 2013
Spätestens mit dem rekonstruierenden Wiederaufbau nach 1945 hat sich das Bild von St. Michael in Hildesheim als gleichsam idealem Kirchenbau an der Wende von Vor- zu Frühromanik etabliert. Der Stifter und die qualitätvolle Ausstattung sorgten für reges Forschungsinteresse, auch nach der großen Bernward-Ausstellung von 1993. [1] Das Jubiläum der Grundsteinlegung im Jahr 1010 bot den Anlass zu einer Tagung, deren Ergebnisse nun mit dem von Gerhard Lutz und Angela Weyer herausgegebenen Band vorliegen.
Die 24 Beiträge thematisieren in chronologischer Folge zunächst Hildesheim und St. Michael zur Zeit Bernwards sowie dessen Tätigkeit als Bauherr, Reliquiensammler und Stifter von Kunstwerken. Einem kürzeren Teil zur Heiligsprechung und zur Neugestaltung des Kirchenbaus im 12. und 13. Jahrhundert folgen Untersuchungen zu Kirche und Kloster im Spätmittelalter. Den Abschluss bilden die Veränderungen und Neuinterpretationen St. Michaels von der Reformation bis zum 1960 vollendeten Wiederaufbau.
Deutlich wird zum einen, dass Baugeschichte und Rekonstruktion des Bernwardbaus nach wie vor Fragen aufwerfen. Sowohl die jüngere Stiftergrabplatte (Abb. 8) als auch das von Reinhard Karrenbrock untersuchte Passionsretabel (285-304) belegen zwar, dass die markante Silhouette bereits im Spätmittelalter zeichenhaft für St. Michael stand. Gleichwohl bleibt offen, inwieweit das seit der Publikation von Hartwig Beseler und Hans Roggenkamp kanonisierte Bild im Detail die Konzeption des Stifters spiegelt oder durch spätere Veränderungen mitgeprägt wurde. [2]
Die Ergebnisse der in den letzten Jahrzehnten punktuell durchgeführten archäologischen Bauforschung harren teilweise noch einer Publikation und kritischen Auswertung (16f.). Karl-Bernhard Kruse und Matthias Untermann nehmen dies zum Anlass, gängige Vorstellungen durch Vergleiche mit anderen Bauten zu hinterfragen.
Gestützt auf Untersuchungen im Hildesheimer Dom bringt Kruse die Ostanlage des Altfrid-Baus als unmittelbares Vorbild für die Krypta von St. Michael ins Spiel. Da der halbkreisförmige Kryptenumgang des Doms vermutlich einen dreischiffigen Innenraum einfasste, ergibt sich eine verblüffende Ähnlichkeit beider Lösungen (35ff.).
Untermann geht einen Schritt weiter und zieht anstelle des Westzugangs für den Bernwardbau eine Scheitelkapelle in Betracht. Als Argumente dienen fehlende Nachweise für Zugangswege von Westen vor dem 17. Jahrhundert und die Ungewöhnlichkeit einer Verbindung von liturgischem Zentrum mit axialem Portal (54-60). Er attestiert der Forschung ein "Kreisen um die Genialität und Spiritualität des Bauentwurfs" (63) und stellt diesem die Unsicherheiten der Überlieferungen und Befunde gegenüber. Eine verblüffend große Bandbreite theoretisch denkbarer Rekonstruktionen eröffnet sich etwa für den "mehrräumigen 'Ostbau'" (60), die anhand weit gespannter Vergleiche (etwa Westbau von St. Maximin in Trier) verdeutlicht wird.
Michael Brandt und Gerhard Lutz bieten eine funktionale und inhaltliche Deutung von Raumstrukturen und Bauprozessen. Das Westportal der Krypta interpretiert Brandt als Bestandteil von Bernwards Konzept für ein von Altären auf mehreren Ebenen umgebenes und direkt von außen zugängliches Stiftergrab (98f.). Als vergleichbare Situation wird das Grab des Kölner Erzbischofs Anno II. in Siegburg herangezogen, das laut Vita auf Wunsch des Verstorbenen im Kirchenschiff angeordnet wurde, damit Laien dort jederzeit beten und Gaben niederlegen konnten. Allerdings ist zu bedenken, dass die Überlieferungssituation in beiden Fällen durch spätere Bestrebungen um eine Heiligsprechung der Stifter geprägt ist. Selbst wenn man nicht der Argumentation von Almuth Klein folgen möchte, die die Wahl des Bestattungsorts Krypta weniger Bernward als dem Konvent von St. Michael zutraut [3], bleibt festzuhalten, dass der Zugang zum Grab vor allem im Zuge der Heiligenverehrung besondere Bedeutung gewann und in St. Michael durch die Querhausarme auch vom Kircheninneren während des Chorgebetes möglich gewesen sein müsste.
Lutz sieht die baulichen Veränderungen nach 1150 durch das Streben nach Erhaltung des Ursprungsbaus im Sinne eines verehrungswürdigen Zeugnisses geprägt (212-225). Mit der Frühdatierung der Westapsis in die 1190er-Jahre geht die Vorstellung einer bewussten Modernisierung älterer Strukturen infolge der Kanonisation Bernwards einher. Seine These einer Analogie zur Rezeption älterer Darstellungsformen bei zeitgenössischen Kruzifixen weitet den Blick auf ein auch andernorts feststellbares Phänomen, das im Vergleich mit weiteren Umbauten von Sakralräumen im 12. und 13. Jahrhundert eingehender zu diskutieren wäre.
Einen zweiten Schwerpunkt bilden Bücher und Schriftzeugnisse. Hedwig Röckelein führt in ihrer quellenkritischen Analyse der Bernward zugeschriebenen Reliquientranslationen überzeugend vor Augen, dass dieser erst von den nachfolgenden Generationen zu einem herausragenden Reliquiensammler stilisiert wurde (107-127). Martina Giese kann mit der niederdeutschen Vita Bernwards von 1419 den eindrucksvollen Beleg für eine Aktualisierung der Überlieferung präsentieren, die gezielt Kunstwerke als Zeugnisse für das Wirken Bernwards mit einbezieht (249-269). Das wohl wenige Jahre zuvor erfolgte Palimpsestieren und Neuschreiben des Ratmann-Sakramentars bringt Patricia Engel ebenfalls mit den Bemühungen um eine Intensivierung des Bernwardkults in der Zeit um 1400 in Verbindung (242-248). Die Beispiele verdeutlichen nicht nur die Bestrebungen der Mönche von St. Michael um eine Adaptierung und mediale Aufbereitung der Geschichte und ihrer realen Zeugnisse, sondern lenken gleichzeitig den Blick auf sich vielfach überlagernde und durchdringende Überlieferungsschichten.
Neben den wenigen, hier herausgegriffenen Aspekten sind aus kunsthistorischer Sicht vor allem die Beiträge zur Bernwardinischen Kunst (Klaus Gereon Beuckers, Lawrence Nees, Jennifer Kingsley) und zu den gestalterischen Neuinterpretationen des Innenraums von Interesse. Während Harald Wolter-von dem Knesebeck für die sukzessive Erneuerung der Kirchenausstattung im Mittelalter ein sich ergänzendes ikonografisches Programm aufzeigen kann (226-241), zeichnet sich im Zuge der Wiederherstellung im 19. und frühen 20. Jahrhundert mehr als nur der Wunsch nach einem einheitlichen Erscheinungsbild ab. Wie Ursula Schädler-Saub deutlich macht, spiegeln die verschiedenen Ausmalungsphasen die zeitgenössischen Stildebatten (351-371). Griffen Conrad Wilhelm Hase und Georg Bergmann vor allem Ornamente des Deckenbildes auf, so zeigen die Entwürfe Hermann Schapers von 1907 einen mittels Imitation von Marmorinkrustation und Flechtwerkmotiven im Sinne des von Karl Mohrmann und Ferdinand Eichwede im Jahr zuvor herausgegebenen Bandes "Germanische Frühkunst" gestalteten Kirchenraum.
Insgesamt bietet der mit zahlreichen Farbabbildungen opulent ausgestattete Band nicht allein einen konzisen Einblick in den derzeitigen Forschungsstand, sondern zahlreiche Anregungen für eine weitere Beschäftigung mit einem bedeutenden mittelalterlichen Sakralbau und seinem Stifter in sich wandelnden Kontexten und Überlieferungssituationen.
Anmerkungen:
[1] Michael Brandt / Arne Eggebrecht (Hgg.): Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Ausst. Kat. Hildesheim 1993, 2 Bände, Hildesheim / Mainz 1993.
[2] Hartwig Beseler / Hans Roggenkamp: Die Michaeliskirche in Hildesheim, Berlin 1954.
[3] Almuth Klein: Funktion und Nutzung der Krypta im Mittelalter. Heiligsprechung und Heiligenverehrung am Beispiel Italien, Wiesbaden 2011, 18-21.
Markus Thome