Katrin Passens: MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung von 1971 bis 1989, Berlin: Lukas Verlag 2012, 345 S., ISBN 978-3-86732-123-5, EUR 24,90
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Karin Schmidt: Zur Frage der Zwangsarbeit im Strafvollzug der DDR. Die "Pflicht zur Arbeit" im Arbeiter- und Bauernstaat, Hildesheim: Olms 2011
Mit der politischen Justiz im SED-Staat haben sich bislang zahlreiche Forscher befasst. Auch etliche Untersuchungshaftanstalten der Staatssicherheit sind untersucht worden. Kathrin Passens, Mitarbeiterin der Gedenkstätte Berliner Mauer, erörtert nun, welchen Funktionswandel die politische Repression im Laufe der Jahre erfuhr. Mehr Augenmerk als ihre Vorgänger legt die Autorin dabei auf die Interaktion zwischen dem Regime und seinen Gegnern, da Diktaturen "ihre Feinde stets auch selbst [produzieren], weil deren Existenz die Notwendigkeit von Repression rechtfertigt" (65).
Durch Spitzel, Abhören und Postkontrolle wurden der Staatssicherheit unzählige Verdachtshinweise bekannt, nachfolgende Untersuchungen mündeten oft in Festnahme und Verurteilung. Allerdings wurden viele Republikflüchtige erst vor der Grenze "auf frischer Tat" gestellt, weil die Geheimpolizei ihre Pläne eben nicht "rechtzeitig" aufgedeckt hatte. Den Untersuchungshäftling ließ die Staatssicherheit dann "völlig im Unklaren über die eigene Situation", was eine "größtmögliche Verunsicherung" bezweckte (56). Dass sich Haftbedingungen mitunter zum Positiven veränderten (u.a. durch Modernisierung der Gebäude), diente allein dem Erscheinungsbild der DDR im Ausland, war insofern "ausschließlich funktional und hatte nicht zum Ziel, die Haftsituation des Einzelnen zu verbessern" (80).
Straftatbestände konnten in der DDR fast nach Belieben herangezogen werden - sofern man es nicht bei einer Geldstrafe beließ, weil die Verhaftung eines Oppositionellen Kritik der westlichen Presse ausgelöst hätte. "Der instrumentelle Gebrauch von Gesetzen zeugte davon, wie bewusst das SED-Regime jeweils [bei jeder Inhaftierung] eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellte" (178). Dementsprechend wollte die Staatssicherheit mit kürzeren Ermittlungsverfahren in den 1970er Jahren auch einen schnelleren Freikauf erreichen, die Haftkosten mindern und "Unruhe" in den Untersuchungshaftanstalten vermeiden (182). Außerdem hoffte sie, kurze Verfahren der Öffentlichkeit besser vermitteln zu können. Die abschreckenden Wirkung eines "kurzen Prozess" erwähnt die Autorin hier nur am Rande.
Bei der politischen Verfolgung musste das SED-Regime insgesamt von offener Repression zu "weicheren" Formen wie Zersetzungsmaßnahmen übergehen (89). Diese ersetzten Inhaftierungen aber keineswegs und wurden auch nicht einfach komplementär verwendet. Passens interpretiert diese Entwicklung nicht nur als Ergebnis außenpolitischer Rücksichtnahmen, sondern als Resultat einer Optimierung geheimpolizeilicher Verfolgungsstrategien. Allerdings verweist die Autorin darauf, dass Zersetzungsmaßnahmen nicht "von heute auf morgen" Wirkung zeigten, keine Erfolgsgarantie boten (141) und in der gesamten Ära Honecker in einer maximal fünfstelligen Zahl von Fällen angewendet wurden.
Wenn jemand bei einer Flucht gescheitert war, gestaltete sich die Beweislage so einfach, dass vorzugsweise junge Vernehmer mit diesen Fällen betraut wurden - mehr als 10 000 Ermittlungsverfahren dieser Art wurden bis 1989 eröffnet. Doch immer häufiger verhaftete die Staatssicherheit nur kurzzeitig - weil es um Abschreckung ging und die westliche Öffentlichkeit gar nicht erst alarmiert werden sollte. Offen lassen muss Passens, ob sinkende Zahlen von Ermittlungsverfahren auf verminderte Repression der Machthaber zurückgingen oder die Delikte sich tatsächlich verringerten - konkret: War Mitte der 1970er Jahre die Geheimpolizei wegen des KSZE-Prozesses milder gestimmt oder stellten Fluchtwillige ihre Pläne zurück, weil sie auf legale Ausreise hofften oder sich immer geringere Chancen ausrechneten? Für die zweite Hälfte der 1970er Jahre diagnostiziert die Autorin dann eine Ausweitung der Zersetzungsmaßnahmen sowie eine Zunahme von Ermittlungsverfahren bei gleichzeitiger Minderung der Strafmaße - letzteres ist bislang noch kaum untersucht worden.
Einen mutigen Perspektivwechsel unternimmt Passens mit der Schilderung der "Hindernisse", denen sich die Vernehmer in ihrer Arbeit gegenübersahen. Der Autorin zufolge stärkte die politische Repression letztlich den Selbstbehauptungswillen der Bürger, so dass etwa Angehörige der Opposition - nach entsprechender mentaler und juristischer Vorbereitung - immer häufiger komplett die Aussage verweigerten. Solidarisierung des Umfeldes sowie der westlichen Öffentlichkeit führte gelegentlich gar zu vorzeitiger Freilassung (etwa von Bärbel Bohley und Ulrike Poppe). Als Mitglieder der Umweltbibliothek Ende 1987 verhaftet wurden und sich unter den Augen westlicher Fernsehteams Mahnwachen bildeten, wirkte die staatliche Repression Passens zufolge kaum noch abschreckend. Über diesen prominenten Fall unterschätzt die Autorin vielleicht die Fortdauer politischer Repression in vielen anderen Fällen.
Passens skizziert nicht nur die Verfolgungsstrategien der Staatssicherheit, sondern konstatiert auch Abstriche von der Allmacht der Häscher. So waren neunzig Prozent der Abhörgeräte in den Untersuchungshaftanstalten im Jahre 1970 außer Betrieb. Und die einfachen Aufseher zeigten aus Sicht ihrer Vorgesetzten an der Verhinderung gegenseitiger Kontaktaufnahme von Gefangenen in Isolationshaft oft "ein gewisses Desinteresse" (43). Die Geheimpolizei (bzw. deren Juristische Hochschule) reflektierte sogar selbst die nachlassende Wirksamkeit des Strafrechts bei der Gegnerbekämpfung. Neben der Vielzahl staatlicher Repressionen untersucht Passens auch die Entstehung der Bürgerrechts- und Friedensbewegung und bettet ihre Darstellung in die außen- sowie innenpolitischen Klimaveränderungen der Ära Honecker ein.
Die Autorin konzentriert sich mit wenigen Ausnahmen ganz auf diese Phase, wodurch sie auch kleineren Veränderungen der "Handschrift" politischer Repression auf die Spur kommt. Den wichtigen Freikauf politischer Gefangener indes erwähnt sie zwar verschiedentlich, untersucht seine Rückwirkungen auf Opposition und Repression aber zu wenig.
Weil die Staatssicherheit bei aller Akribie oft unvollständige Kriminalstatistiken hinterließ, ist Passens tabellarischer Anhang höchst wertvoll für die Erforschung von Repression und Widerstand. Allerdings weist die Autorin keine prozentualen Anteile einzelner Delikte und Strafmaße aus, nimmt auf solche Zahlen in der Studie aber immer wieder Bezug. Und die nackte Zahl der Ermittlungsverfahren in den Bezirken besagt wenig, wenn sie nicht an der Einwohnerzahl gemessen wird. Dennoch haben nur wenige Autorinnen oder Autoren vor ihr den Komplex der geheimpolizeilichen Strafverfolgung so sorgsam analysiert. Als Desiderate macht Passens etwa die Erforschung der MfS-Untersuchungshaftanstalten in den Bezirken aus - ebenso wichtig wäre eine Untersuchung der Kriminalpolizei, die bis in die sechziger Jahre mehr politische Delikte verfolgte als die Staatssicherheit.
Tobias Wunschik