Judith Michel: Willy Brandts Amerikabild und -politik 1933-1992 (= Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte; Bd. 6), Göttingen: V&R unipress 2010, 564 S., ISBN 978-3-89971-626-9, EUR 67,90
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Willy Brandts politischer Stil galt vielen Zeitgenossen als "amerikanisch", sein öffentliches Auftreten als "amerikanisiert". Insbesondere die Art, wie er in den 1960er Jahren als Regierender Bürgermeister von Berlin und als SPD-Kanzlerkandidat Wahlkampf führte, nicht zuletzt auch die Inszenierung seines Privat- und Familienlebens wurden von politischen Beobachtern als Ausweis einer besonderen Nähe zu den Vereinigten Staaten von Amerika gelesen. Doch wie verhielt es sich mit Brandts Einstellung zu den USA?
Judith Michel untersucht in ihrer 2010 publizierten Bonner Dissertation Willy Brandts Amerikabild und -politik. Sie interessiert sich dafür, "wie Willy Brandts Amerikabild seine amerikapolitischen Entscheidungen beeinflusst hat und wie wiederum seine Wahrnehmung der USA durch seine transatlantischen Erfahrungen verändert wurde" (21). Damit fragt diese Teilbiografie nach dem Zusammenhang von Wahrnehmung und Handlung. Michel analysiert, welche "Perzeptionsstrukturen" und "Vorstellungsbilder" (23) Brandt in den Jahren seiner politischen Sozialisation entwickelte, wie diese Wahrnehmungsmuster sein späteres politisches Handeln beeinflussten und sich in der Rückwirkung wiederum selbst veränderten.
Die Autorin folgt dem klassischen chronologischen Ansatz. Sie gliedert ihre Studie in fünf große Kapitel, die sich nacheinander mit Brandts Amerikabild im Exil (1933-1947), in seinen frühen Berliner Jahren (1947-1957), den Jahren zwischen Berlin-Krise und der Ermordung John F. Kennedys (1958-1963/64), während seiner Zeit als Außenminister und Bundeskanzler (1965-1974) sowie schließlich mit Brandts Aktivitäten nach seinem Ausscheiden aus der Regierungsverantwortung (1974-1992) beschäftigen.
Michel argumentiert, dass die USA für Brandt gleichermaßen ein Reservoir der politischen Abgrenzung und Legitimation waren. Prägten Brandts Amerikabild in seiner Jugend- und Exilzeit noch sozialistische Einflüsse, wandelte sich die ideologische Distanz gegenüber den Vereinigten Staaten parallel zu seiner Entwicklung vom revolutionären zum demokratischen Sozialisten und seinen immer enger werdenden Kontakten zu Amerikanern. Der junge Brandt bewunderte Franklin D. Roosevelt, von dem er meinte, dass er mit dem New Deal eine dezidiert sozialdemokratische Gesellschaftsordnung angestrebt habe.
Während diese weitgehende Identifikation verschiedene Politik- und Gesellschaftsbegriffe in den USA und der Bundesrepublik miteinander vermengte und deshalb rasch an Grenzen stieß, wurde, wie Michel überzeugend ausführt, Brandts Amerikabild und -politik nach dem Krieg von der Erfahrung der USA als Schutzmacht Berlins bestimmt. Spätestens mit der Berlin-Krise von 1958 verfestigte sich sein positives Bild von den Vereinigten Staaten als der Verteidigerin "westlicher Werte" gegen die Sowjetunion im Rahmen der zeitgenössischen Vorstellungen vom Kalten Krieg.
Nun begann Brandt auch, Elemente der politischen Kommunikation in den USA zu adaptieren. Dies macht schon das Coverfoto von Michels Buch deutlich, das Brandt lächelnd mit Hut und Ledermantel zeigt, die beide unverkennbar amerikanischen Ursprungs sind. Dass Brandt von den Zeitgenossen als der "deutsche Kennedy" gesehen wurde, kann man mit Michel als Folge seines persönlichen Wohlwollens gegenüber dem Präsidenten und der daraus resultierenden Übernahme seines politischen Stils begreifen. Es war aber noch mehr. Denn mit der inszenatorischen Anlehnung an amerikanische Kommunikationsgewohnheiten und ihrer Integration in das Handlungsrepertoire der bundesdeutschen Politik liegt das Musterbeispiel eines transatlantischen Transfers vor, der sich unter dem Blickwinkel von "Amerikanisierung" oder "Westernisierung" der deutschen Politik beschreiben lässt. Die Übernahme und Aneignung von in den USA erprobten Kommunikationsformen geschah dabei nicht zuletzt mittels performativer Rituale, wurde die Nähe zu "Amerika" gerade bei Brandt doch eben auch körperlich aufgeführt.
Die frühen 1960er Jahren waren, wie Michel schreibt, der Höhepunkt der positiven Amerika-Einstellungen Brandts. Nachdem der Vietnamkrieg das Ansehen Washingtons nachhaltig beschädigt hatte, rückte mit dem Ende von Brandts Kanzlerschaft 1974 der Nord-Süd-Konflikt in das Zentrum seiner politischen Aufmerksamkeit. Die USA fungierten nun vor allem als das Andere, von dem Brandt sich und seine politischen Ziele abgrenzte. Sein Eintreten für den "globalen Süden", seine Opposition gegen die Wiederverschärfung der Ost-West-Konfrontation nach dem NATO-Doppelbeschluss und seine Sympathie für die revolutionären Bewegungen in Lateinamerika brachten ihn in Konflikt zur US-Außenpolitik.
Michel fördert in ihrer Untersuchung mehrere wichtige Ergebnisse zutage. Erstens akzentuiert sie die Bedeutung von Brandts transnationalen Kontaktnetzen und seinen zahllosen Reisen in die USA für das politische Denken des Sozialdemokraten. Zweitens unterstreicht sie die Bedingtheit von Brandts Wahrnehmung durch die jeweiligen politischen Funktionen, die er ausübte. Während er als Bürgermeister, Außenminister und Bundeskanzler eine überwiegend affirmative Einstellung zu den USA hatte, verschlechterte sie sich in dem Moment, als er das Kanzleramt verließ.
Was die Grundhaltung von Brandt gegenüber den Vereinigten Staaten betrifft, gelangt Michel zu dem Schluss, dass diese - jenseits von tagesaktuellen Differenzen - über die Jahre konstant positiv geblieben sei. So nimmt sie Brandt gegen den Vorwurf des "Anti-Amerikanismus" in Schutz und betont auch, dass Brandt "nie" ein "Wanderer zwischen den Welten" (522) gewesen sei. Zugleich bekräftigt sie ein wenig essentialistisch, dass zwischen Brandt und den USA "immer eine wirkliche [sic] Werte- und Interessenidentität" (522) bestanden habe.
Auch wenn diese Ergebnisse überzeugen, ist zweierlei anzumerken. Erstens hätte das sehr umfangreiche, mitunter detailversessene Manuskript an einigen Stellen gestrafft werden müssen. Damit hätten sich etliche Redundanzen vermeiden und jene Stellen kürzen lassen, an denen Michel längst bekannte Ergebnisse der Forschung kompiliert; der Rezensent hat dies unter anderem bei der Lektüre des Kapitels über die Nachrüstungsdebatte festgestellt. Zweitens wäre der Arbeit zu wünschen gewesen, dass sie mit einem stärker konstruktivistischen Zugriff geschrieben worden wäre. Denn Michel übernimmt mitunter zeitgenössische Deutungsmuster und Begriffe, ohne sie als solche zu problematisieren und konsequent zu historisieren. "Neoliberalismus", "Anti-Amerikanismus" und "Imperialismus" waren solche diskursiven Konstrukte, mit denen die Zeitgenossen ihrer Welt Sinn und Bedeutung verliehen.
Trotz dieser Einwände liegt mit dem Buch von Judith Michel ein systematischer, flüssig geschriebener und klug argumentierender Beitrag zur Brandt-Forschung vor. Michel schließt nicht nur ein Forschungsdesiderat. Ihre Dissertation fördert auch zahlreiche neue Quellen aus deutschen und US-amerikanischen Archiven zutage, die das bekannte Brandt-Bild ergänzen. Wer sich zukünftig mit der Person Willy Brandts, seinem politischen Denken und Wirken beschäftigen will, wird um dieses Buch nicht herumkommen.
Jan Hansen