Jörg Voigt: Beginen im Spätmittelalter. Frauenfrömmigkeit in Thüringen und im Reich (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 32), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, X + 521 S., ISBN 978-3-412-20668-0, EUR 69,90
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Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Dissertation, die 2009 in Jena abgeschlossen wurde. Der Autor will "neben den Beginen [...] auch die unregulierten Lebensformen von Frauen" (15) in seiner Gesamtheit erklären, und dies für das gesamte spätmittelalterliche Reich. Jörg Voigt will sich damit deutlich von den zahlreichen "lokalgeschichtlich und ohne übergreifendere Fragestellungen" (6) ausgerichteten Studien abgrenzen, die er immer wieder heftig kritisiert: Hier ist einer ausgezogen, um mutig das Beginentum neu zu erklären!
Leider gelingt der von Voigt angestrebte "große Wurf" aus zwei simplen Gründen nicht: Erstens will "die Arbeit nicht den Versuch unternehmen, eine Deutung des Terminus 'Begina' vorzuschlagen." (15) Folglich spricht Voigt meist von "mulieres religiosae" oder der "vita religiosa" für Frauen (zum Beispiel Kapitelüberschriften I A 3; I C 1 und C 2). Eine Neuinterpretation eines historischen Phänomens kann aber nicht gelingen, wenn bis zum Schluss nicht definiert wird, was genau untersucht wurde! Zweitens soll äußerst ambitioniert "das Reich" untersucht werden; auch hier bleibt offen, welches Gebiet gemeint ist. Selbst wenn er sich auf das Reich nördlich der Alpen beschränken wollte, werden für eine Gesamtschau zu viele Städte nur ganz kurz gestreift, etwa Hamburg im Norden oder Bern weiter im Süden des Reiches, ganz zu schweigen von Oberitalien mit seinen vielfältigen Lebensformen für "mulieres religiosae". Ebenso findet das (bisher meist sträflich vernachlässigte) ländliche Beginentum nur ganz am Rande Erwähnung. Voigt untersucht schwerpunktmäßig drei Regionen: Thüringen, den Nordwesten des Reiches und den Oberrhein. Vor allem zu Thüringen ist er zu innovativen Ergebnissen gelangt, die die zukünftige Forschung berücksichtigen muss. Insgesamt ist die Studie - so sein eigenes Urteil und nicht etwa das der Rezensentin - zu den gering zu schätzenden Regionalstudien in vergleichender Perspektive zu zählen (vgl. seine Einleitung 6-9).
Die Arbeit besteht aus zwei großen Teilen, die sich auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts (Teil I) und das 14. Jahrhundert (Teil II) beziehen und um einen kurzen Exkurs zum 15. Jahrhundert (Teil III) ergänzt werden. Teil I, Kap. A, behandelt die verschiedenen regulierten und unregulierten religiosen Lebensformen für Frauen, die im Bistum Lüttich im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts entstanden sind. Kap. B untersucht die Ausbreitung dieser Lebensweise in "Deutschland" (so die Kapitelüberschrift), behandelt aber vor allem die Region am Mittel- und Niederrhein. Das umfangreiche Kap. C untersucht exemplarisch die Städte Erfurt, Mühlhausen, Nordhausen und Jena und kann beeindruckende neue Ergebnisse zu Thüringen vorweisen. Teil II beginnt mit einem sehr umfangreichen Kap. A zum Konzil von Vienne und behandelt die Auswirkungen der Vienner Dekrete vor allem in Hinblick auf die vier ausgewählten Thüringer Städte, aber auch auf die Bistümer Straßburg, Cambrai, Tournai, Lüttich und Utrecht. Voigt postuliert mit Blick auf Straßburg, dass "keinesfalls von einer umfassenden Beginenverfolgung" nach Vienne (312) auszugehen sei und verallgemeinert diesen Befund auch für andere Städte. Leider bleibt bis zum Schluss unklar, was Voigt unter "Verfolgungen" von Beginen versteht, die es seiner Ansicht nach in Deutschland gar nicht gab. Mit dieser These wird sich die zukünftige Forschung kritisch auseinandersetzen müssen.
Kap. B legt den Schwerpunkt auf das Vorgehen gegen Frauen durch die Inquisition von 1345 bis 1377. In Kap. C wird dieses Thema kurz am Basler Beispiel bis in die beiden ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts fortgeführt.
Die Fokussierung auf Thüringen ist wohl begründet: Zum einen gibt es kaum nennenswerte Vorgängerstudien, zum anderen weist diese Region spätestens seit dem 12. Jahrhundert mit ihrer Dichte an benediktinischen und zisterziensischen Reformklöstern und der stetig wachsenden Städtelandschaft idealtypische Bedingungen für die Entstehung neuer Frömmigkeitsformen auf. Voigt ist es zudem gelungen, vor allem zu den vier herangezogenen Thüringer Städten sowie zur Auseinandersetzung um das Vienner Konzil neues Quellenmaterial zu finden und für die Frage nach weiblichem Religiosentum zu erschließen.
Der insgesamt positive Gesamteindruck wird leider dadurch grundlegend geschmälert, dass der Autor wiederholt seine eigenen Beiträge und Überlegungen als "neu" (zum Beispiel 167, 288, 442) oder als "erste kritische Hinterfragung" (zum Beispiel 36, 173, 179, 440) darstellt und dabei allzu gerne unerwähnt lässt, dass er keineswegs immer der erste ist, der diese Entdeckung gemacht hat. Am eklatantesten ist dies bei seinen Ausführungen zum Konzil von Vienne: Viele Elemente seiner Argumentation finden sich bereits 1974 im grundlegenden Beitrag von Jacqueline Tarrant. [1] Gleiches gilt aber auch für die "Neubewertung" des Magdalenerinnenordens (167), die schon bei Sigrid Schmitt nachzulesen ist. [2] Und die "bisher kaum wahrgenommenen" Kölner Synodalstatuten von 1318 (269 Anm. 1159) wurden von Letha Böhringer bereits 2006 umfassend gesammelt und ausgewertet. [3]
Der irritierende Umgang mit Forschungsergebnissen von Kollegen und Kolleginnen fällt bereits in der Einleitung von Voigts Buch auf: Es bleibt völlig unklar, nach welchen Kriterien Beiträge genannt werden - oder eben nicht. Obwohl ihm beispielsweise die noch ungedruckte Habilitationsschrift von Sigrid Schmitt (jetzt Hirbodian) von 2001 laut Literaturverzeichnis zugänglich war, in der idealtypisch die verschiedenen Formen weiblichen Religiosentums in ihrer Verflechtung mit der Stadtgesellschaft am Beispiel Straßburg untersucht wurden, findet sie hier keine Erwähnung! Dieses Ungleichgewicht ist noch eklatanter, wenn es um jüngste Studien zu Beginen geht, die in der Einleitung nur kurz erwähnt und anschließend in einer Fußnote vergraben werden (so zum Beispiel die Forschung von Letha Böhringer, 10, Anm. 36; oder Jennifer Kolpacoff Deane, 11, Anm. 37; gleiches gilt für Schmitt, Geistliche Frauen, in Bezug auf Voigts Ausführungen auf 233-269). Von diesen Kolleginnen wurde nur ein Teil ihrer einschlägigen Publikationen zitiert, so fehlt zum Beispiel Böhringer "Geistliche Frauen" [4], oder Kolpacoff Deane, "A History of Medieval Heresy and Inquisition" [5]. Die umstrittene, da im Detail häufig fehlerhafte Dissertation von Frank-Michael Reichstein von 2001 wird hingegen 18 Zeilen lang im Haupttext der Einleitung gewürdigt (10).
Insgesamt hat Jörg Voigt eine anregende Studie für einzelne Regionen zu weiblichen religiosen Lebensformen vorgelegt. Er zeichnet die Entwicklungslinien und Differenzierungsprozesse unterschiedlicher Lebensformen auf, die er vom 12. bis zum 15. Jahrhundert untersucht hat. Es ist schade, dass er dabei immer wieder im Dunkeln lässt, was seine eigenen Ideen sind und was er von anderen Forschern und Forscherinnen übernommen hat. Voigt konnte wichtiges neues Quellenmaterial erschließen und interessante neue Impulse für die Beginenforschung setzen, mit der sich die zukünftige Forschung auseinandersetzen muss. Es ist ihm allerdings nicht gelungen, sein ehrgeiziges Programm umzusetzen und damit die ältere Forschung obsolet zu machen, um "das Rad neu zu erfinden".
Anmerkungen:
[1] Jacqueline Tarrant: The Clementine Decrees on the Beguines: Conciliar an Papal Versions, in: AHP 12 (1974), 300-308.
[2] Sigrid Schmitt (jetzt Hirbodian): Geistliche Frauen und städtische Welt. Kanonissen - Nonnen - Beginen und ihre Umwelt am Beispiel der Stadt Straßburg im Spätmittelalter (1250-1525). 2 Bde., Habilitationsschrift Mainz 2001.
[3] Letha Böhringer: Kölner Beginen im Spätmittelalter - Leben zwischen Kloster und Welt. In: Geschichte in Köln 53 (2006), 7-34, hier besonders 26, Anm. 64.
[4] Letha Böhringer: Geistliche Gemeinschaften für Frauen im mittelalterlichen Köln, Köln 2009.
[5] Jennifer Kolpacoff Deane: A History of Medieval Heresy and Inquisition (Critical Issues in World and International History), Lanham 2011.
Sabine von Heusinger