Graeme Dunphy (ed.): Encyclopedia of the Medieval Chronicle, Leiden / Boston: Brill 2010, 2Bde., LXXXIV + 1748 S., ISBN 978-90-04-18464-0, EUR 399,00
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"Chronicles are the bread and butter of the medieval historian" - so die Herausgeber im Vorwort zu ihrem monumentalen Nachschlagewerk (VII). Nach jahrelangen Vorarbeiten konnte das ambitionierte Projekt der "Encyclopedia of the Medieval Chronicle" (EMC), das in der vorliegenden Form um die 2500 Texte beinhaltet, nunmehr erfolgreich zu Ende gebracht werden. Die Herausgeber haben sich selbst hohe Ziele gesetzt: Von einem "reference work which would draw together the basic data from all the disciplines", als Ausgangsplan ist die Rede (VIII), weiterhin von einem Werk, das erstmals sämtliche mittelalterlichen Texte "which in one sense or another could be described as medieval chronicles", umfassen soll (VIII). Besonderen Wert legen die Mitwirkenden darauf, die bearbeiteten Texte nicht nur als Informationsquellen herangezogen, sondern zugleich auch ihrer Literarizität Rechnung getragen zu haben und damit aktuelle Tendenzen der Forschung, die erst seit jüngerem 'die Chronik' als Gattung mit spezifischen Eigenschaften, besonderem Gestaltungswillen und eigenen Intentionen wahrnimmt, aufzugreifen.
Das Kompendium erfasst in der Tat eine gewaltige Materialfülle: Berücksichtigt wurden nicht nur Texte aus dem 'Kernbestand' des lateinischen Mittelalters, sondern der geographische Raum wurde erfreulich weit geöffnet, so dass Nordafrika (z.B. Victor von Vita [1477], Johannnes von Nikiu [935f.]), der Nahe und Mittlere Osten und damit insbesondere auch Byzanz mit einbezogen werden konnten; auch die skandinavischen Literaturen sind vertreten, nicht nur mit wichtigen Repräsentanten wie Saxo Grammaticus [1328-1330] und Snorri Sturluson [1375f.], sondern etwa auch in Gestalt des Ari Þorgilsson, dem vermeintlich ersten isländischen Historiographen [109], oder mit einzelnen Werken wie z.B. der Jómsvíkinga saga [944f.]. Eingang in das Sammelwerk fand zudem die mittelalterliche arabische Literatur (auch die christliche, z.B. Agapios von Mabbug, 10. Jh. [17f.]) sowie der weite Bereich der west- und ostsyrischen Chronistik, wiederum nicht nur mit den wichtigsten Vertretern (Michael Syrus [1110f.], Chronik zum Jahr 1234 [284f.], Bar Hebraeus [732f.]), sondern auch mit kleineren Werken, bis hin zur Chronik von Edessa aus dem 6. Jahrhundert [330f.]. Umfassend berücksichtigt wurde darüber hinaus auch die mittelalterliche slawische Historiographie.
Der Ausdehnung in den Raum entspricht der weite zeitliche Rahmen: Im Vorwort definieren die Herausgeber die von ihnen bearbeitete Zeitspanne mit ca. 300-1500, wollen diese Eingrenzung allerdings nicht allzu starr gefasst sehen (X); in der Tat greifen die Lemmata teilweise erheblich darüber hinaus, u.a. bis weit in die vorchristliche Zeit zurück, was mitunter zu Einträgen geführt hat, über deren Notwendigkeit man diskutieren kann (s.u.). Erwähnenswert ist schließlich auch die wichtige Entscheidung, die jüdische und islamische Historiographie konsequent mit zu berücksichtigen (wodurch der an der Geschichte des christlichen Europa orientierte Zeitrahmen von der konstantinischen Wende bis zur Reformation indirekt infrage gestellt wird, ein Problem, dessen sich die Herausgeber durchaus bewusst sind).
Angesichts einer derartig breiten Anlage der EMC stellt sich unweigerlich die Frage, was während der Konzeption eigentlich unter 'Chronik' verstanden wurde; die Herausgeber argumentieren hier pragmatisch und bekennen sich zu einem ausgesprochen weiten Begriff der Chronik, der "more or less synonymous with 'historical writing'" und als "umbrella term" zu verstehen sei (XI). Für den Prozess der Auswahl der einzelnen Lemmata war dies zweifellos die richtige Entscheidung. Wem diese Begriffsbestimmung hingegen analytisch zu vage bleibt, der sei verwiesen auf einen der zahlreichen Querschnittbeiträge, die das Kompendium durchziehen: Im Kapitel "Chronicles (terminology)" (274-282) liefert Graeme Dunphy kompetent die nötigen Reflexionen, begriffsgeschichtlichen Anmerkungen und historischen Einordnungen nach.
Solcherart gestaltete systematische Beiträge zu zentralen Sachthemen wurden wie ein Netz über die gesamte EMC gelegt; sie liefern Forschungsdiskussionen, Kontextverortungen und begriffliche Differenzierungen nach, die in den einzelnen Lemmata naturgemäß nicht geleistet werden können, und helfen überdies dabei, die historischen Entwicklungen, die durch die alphabetische Anordnung der Einträge verlorengehen, präsent zu halten. Auf diese Weise ist eine Reihe fundierter Sachartikel entstanden, die man zunächst nicht in einem Kompendium zur Chronistik erwarten würde, (wie z.B. "Arthurian material" [114-118], "Astral phenomena" [119-123], "Chronology and chronometry" [457-466], "Ethnography" [589-592], "Monsters and monstrous races" [1117-1121], "Translation of chronicles" [1440-1444] usw.), die aber wichtige Grundlagen für ein weiteres Verständnis der erfassten Autoren und Texte bieten und deren Lektüre vor allem aus historischer Perspektive lohnt, so etwa zu "Byzantine historiography" [229-236], "Classical historical writing" [466-473], "Early Christian historical writing" [553-563], "Historiography of the Christian East" [807-811], "Islamic historiography" [883-888], "Jewish chronicle tradition" [916-919], "Renaissance historiography" [1269-1273], "Slavia orthodoxa" [1371-1374], ferner z.B. zu "Annals" [45-52], "Consularia and fasti" [486], "Crusading chronicles" [499f.], "Town chronicles" [1432-1438] und "World chronicles" [1527-1532] usw. (ein Verzeichnis der systematischen Beiträge findet sich XXVIIIf.).
Durch die Integration dieser Querschnittbeiträge erreicht EMC einen gegenüber herkömmlichen Lexika weitaus höheren Grad an Vernetzung zwischen den einzelnen Lemmata und bietet Hintergrundinformationen, an deren Vermittlung traditionelle Sammelwerke in der Regel scheitern.
Die einzelnen Artikel folgen grosso modo einem einheitlichen Aufbauschema. Es umfasst Entstehungsort und -zeit der Werke, Inhalt, Stil und Intentionen, "intellectual milieu" und politische Zielsetzungen, die Textüberlieferung (ein Punkt, auf den zu Recht großes Gewicht gelegt wurde) und - sofern verfügbar - die wichtigsten Informationen zur Biographie der Verfasser/innen.
Insgesamt haben die Herausgeber ihre Ziele, "a repository of basic information on individual chronicles" zu erarbeiten (VIII), erreicht. Der Bogen der Beiträge erstreckt sich von früher griechischer Historiographie bis in die Frühe Neuzeit, von der isländischen Sagaliteratur bis zum persischen Epiker Firdausi (619-621). Selbst der Teppich von Bayeux hat erfreulicherweise einen Eintrag erhalten (150-152). Selbstverständlich finden sich in einem Sammelwerk mit einem Umfang von knapp 1750 Seiten immer Punkte, in denen auch andere Entscheidungen hätten getroffen werden können. Das betrifft zunächst die interne Gewichtung einzelner Lemmata: So wird der wohl wichtigste lateinische Historiograph des 4. Jahrhunderts, Ammianus Marcellinus, auf etwas mehr als einer Spalte eher knapp behandelt (35); gleiches gilt für die Chronik von Monemvasia, die immerhin eine zentrale Quelle für die slawische Landnahme auf dem südlichen Balkan darstellt, jedoch nicht einmal eine ganze Spalte erhalten hat (374). Ebenso ein wenig kurz: Das Chronicon Paschale (387f.) und vor allem Ioannes Malalas - immerhin der Begründer der byzantinischen Chronistik mit beträchtlicher Ausstrahlung in diese hinein (eine knappe Spalte auf 873; selbst der Eintrag zum Laterculus Malalianus [997] ist ausführlicher); dass demgegenüber einem Kompilator wie Georgios Monachos (der vielfach abhängig von Malalas ist) deutlich mehr Raum gegeben wurde, verwundert (685f.). Unausgewogenheiten wie diese finden sich verschiedentlich, so etwa im Vergleich der Lemmata zu Priskos von Panion (1235f.) und Prokopios von Kaisareia (1236). Deutlich erkennbar ist, dass einigen 'Autoritäten' der lateinischen mittelalterlichen Historiographie besonderes Gewicht eingeräumt wurde, so etwa - sicherlich zu Recht - Paulus Orosius (1171f., mit Lücken in der Bibliographie), Isidor von Sevilla (880-883) oder Beda Venerabilis (156-159); außerhalb der lateinischen Geschichtsschreibung wirken die Proportionen mitunter etwas verschoben.
Ein großes Verdienst des Sammelwerks besteht hingegen darin, auch unbekanntere, nur fragmentarisch erhaltene oder gar nur dem Namen nach geläufige Autoren mit einbezogen zu haben: So finden sich etwa Lemmata zu Anianos von Alexandreia (43f.) und Panodoros (1185), die aufgrund der von ihnen etablierten christlichen Zeitkalkulationen von erheblicher Bedeutung waren. Auch der praktisch unbekannte Historiograph Nonnosos aus dem frühen 6. Jahrhundert ist präsent (1154f.), ebenso die von der modernen Forschung konstruierte Enmannsche Kaisergeschichte, die im früheren 4. Jahrhundert entstanden sein muss (956f.). Andere Namen hingegen vermisst man: Nicomachus Flavianus (4. Jh.), den Kirchenhistoriker Liberatus (6. Jh.), Nikephoros Kallistos (14. Jh.), aber auch Nestorios (5. Jh.). Mitunter wurden Autoren aufgenommen, die selbst keine Historiographie im engeren Sinne betrieben, aber mit ihren Werken Geschichtsschreibung in besonderem Maße befördert oder konserviert haben. Letzteres gilt natürlich für den byzantinischen Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos (974f.), ersteres für Augustin: "All subsequent western chroniclers and historiographers were in one or other way influenced by Augustine" (126). Der antiquarischen Literatur, die vielfache Überschneidungsbereiche zur Historiographie aufweist, wurde dagegen nur marginale Beachtung geschenkt; Personen wie Johannes Lydos sucht man in der EMC daher vergebens.
Der zeitliche Rahmen ca. 300-1500 wurde, wie angedeutet, bewusst nicht konsequent eingehalten. Insbesondere fanden Autoren Eingang in die EMC, die z.T. zwar weit vor dem Mittelalter anzusetzen sind, jedoch Traditionen begründet haben, die sich für mittelalterliche Geschichtsschreibung von größerer Bedeutung erwiesen haben, oder in den Querschnittbeiträgen eine größere Rolle spielen. Dies hat dazu geführt, dass auch eine Reihe antiker Autoren berücksichtigt worden ist. Für Flavius Iosephos oder auch Julius Africanus und Tacitus mag dies aufgrund ihrer Wirkungsgeschichte unmittelbar einleuchten. Doch wer käme auf die Idee, sich in der EMC über Manetho, Pomponius Atticus, Dionysios von Halikarnassos, Phlegon von Tralleis, Dexippos, oder Berossos und Hegesippos informieren zu wollen? Wenn man sich jedoch dafür entscheidet, die antike Traditionsbildung in Form von Personenlemmata mit einzubeziehen, dann hätte dies auch mit hinreichender Konsequenz geschehen müssen; so aber sucht man ausgerechnet den pater historiae Herodot vergeblich. Hinzu kommt, dass bei den antiken Autoren mitunter unzureichende Literaturhinweise gegeben werden: So besteht etwa das Literaturverzeichnis zum Stichwort 'Tacitus' (1409f.) weitgehend aus einschlägigen Lexikonartikeln aus dem 'Neuen Pauly'. Das hilft nicht wesentlich weiter.
Prinzipiell jedoch ergaben Stichproben, dass die Einzelartikel - die im Übrigen zumeist von ausgewiesenen Spezialisten verfasst worden sind - sich in der Regel auf dem aktuellen Stand der Forschung befinden und in der angeführten Literatur kaum Wünsche offen lassen. Einige Ausnahmen bestätigen die Regel: Das Literaturverzeichnis zu Gregor von Tours (734f.) hätte um einige Hinweise auf neuere Forschungen ergänzt werden können, gleiches gilt für Menander Protektor (1102) und Ps.-Josua Stylites (wo Hinweise auf die Übersetzungen/Kommentare von A. Luther und Trombley/Watt fehlen, vgl. 949) oder auch Iordanes (wo man einen kurzen Hinweis auf die aktuell mit großer Schärfe geführte Diskussion über die Valenz der Getica für eine Rekonstruktion der gotischen Geschichte und das Problem ihrer literarischen Gestaltung erwartet hätte, vgl. 946f.).
Andererseits bildet die EMC in verschiedenen Punkten anschaulich die Fortschritte der jüngeren Forschung ab. So hat etwa Richard Burgess mit seinen zahlreichen Lemmata zu den lateinischen Chronisten des 5. Jahrhunderts ein unübersichtliches Feld vorbildlich aufgearbeitet, ebenso wie die arabischen und syrischen Historiographen des Mittelalters, über die bisher nur schwer Informationen gewonnen werden konnten, nunmehr rasch erschließbar sind.
Es ist insofern überhaupt nicht zu bezweifeln, dass sich die EMC (die im Übrigen vorzügliche Zugriffsmöglichkeiten in Form zahlreicher Register bereitstellt) als eine großartige organisatorische, konzeptionelle und inhaltliche Leistung in der Forschung etablieren und zukünftig ein zentrales Referenzwerk darstellen wird. Nicht einmal die abschreckende Preispolitik des Verlags dürfte dies verhindern können.
Mischa Meier