Stefan Ehrenpreis / Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst (Hgg.): Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 7), München: Oldenbourg 2013, 321 S., ISBN 978-3-486-70251-4, EUR 69,80
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Der vorzustellende Sammelband enthält neben einer Einleitung der Bandherausgeber 12 Artikel zur jüdischen Geschichte im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich. In zwei Schritten soll zunächst das Verbindende der Untersuchungen herausgearbeitet und dann das Konzept des Werkes vorgestellt werden.
Gemeinsam ist den Beiträgen, dass sie in der Regel auf Basis eingehender Archivarbeit beruhen. Sie können daher, auch wenn sie im Einzelfall Begleitpublikationen zu Dissertationen sind, ein hohes Maß an Originalität beanspruchen. Dass eine solche Menge quellenfundierter Untersuchungen zur vormodernen jüdischen Geschichte in einem Band vereint werden kann, belegt die Vitalität der Geschichtsforschung zum mitteleuropäischen Judentum. Blickt man auf die herangezogenen Quellen, liegt der Schwerpunkt eindeutig auf Justizakten. Im Zentrum steht die Überlieferung der beiden höchsten Reichsgerichte, des Reichshofrats und des Reichskammergerichts.
Auch wenn vor allem der Reichshofrat oft noch immer als schlecht erforscht dargestellt wird, macht die Erschließung seiner Akten gerade in den letzten Jahren große Fortschritte. Gleichzeitig wird die Tätigkeit dieser Behörde intensiv untersucht. Dass daran gerade auch Forscherinnen und Forscher zur jüdischen Geschichte einen nicht unbeträchtlichen Anteil haben, wird durch den Band eindrucksvoll bestätigt. Aus der Quellenfundiertheit der übrigen Studien fällt vor allem der "Kurzbeitrag" (321) von Stephan Wendehorst "Die Feudi Imperiali: Eine versteckte Seite der Geschichte der Juden in Italien der Frühen Neuzeit?" (311-321) heraus, in dem vor allem ein Abschnitt aus Cecil Roths "The History of the Jews of Italy" aus dem Jahr 1946 paraphrasiert und einige Fragen bzw. "vorläufige Schlussfolgerungen" geboten werden.
Ein weiteres Merkmal der Beiträge ist, wie der Buchtitel zum Ausdruck bringt, ihre starke lokale/regionale Fundierung. Lediglich Karl Härters rechtsgeschichtliche Studie zu "Jüdische[n] Migrationen im frühneuzeitlichen Alten Reich" (67-92) greift, auch wenn Einzelbeispiele vor allem aus dem Rhein-Main-Gebiet stammen, eine überterritoriale Fragestellung auf. Ansonsten werden in der Regel konkrete lokale/regionale Konflikte dargestellt. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Orte, die zu keinem größeren Reichsterritorium, sondern zu mindermächtigen Reichsständen [1] oder ritterschaftlichen Besitzungen gehörten [2], bzw. um Reichsstädte. [3] Zeitlich konzentrieren sich die Artikel schwerpunktmäßig auf das 18. Jahrhundert, während das 16. mit seinen auch auf der Ebene der höchsten Gerichtsbarkeit ausgetragenen konfessionellen Konflikten, abwesenden bzw. relativ schwachen Kaisern und einer im Vergleich zur Zeit nach 1650 noch kleineren jüdischen Bevölkerung eher unterbelichtet bleibt. Ebenfalls nicht im Zentrum der meisten Artikel stehen die jüdischen Gemeinden selbst, die - etwa in Analogie zur Stadtgeschichte - die eigentliche Analyseebene jüdischer "Lokalgeschichte" sein könnten. Eine Ausnahme bildet etwa der Beitrag von Verena Kasper-Marienberg zu den rechtlichen Handlungsspielräumen der Frankfurter jüdischen Gemeinde.
Die überwiegende Behandlung von einzelnen, lokal zu verortenden Konflikten bedeutet nicht, dass Kontexte nicht mitgeliefert werden würden. So erfährt man zum Beispiel in Elkars Studie zu jüdischen Silberhändlern in Wertheim einiges über die reichsrechtlichen Rahmenbedingungen des Silberhandels; André Griemert bietet Daten zur Frequenz von Prozessen mit jüdischer Beteiligung am Reichshofrat unter Kaiser Ferdinand III.; generell strukturell angelegt ist Ursula Reuters Darstellung der verschiedenen rivalisierenden "Schutzherren" der Wormser Judenschaft. Insgesamt bieten die Beiträge jedoch eher lokalhistorische Themen bzw. einzelne Fallanalysen, deren Signifikanz für das Verhältnis von Juden zu Kaiser und Reich kaum beurteilt werden kann. Wie problematisch dieser Zugang ist, belegt der Beitrag von Rainer S. Elkar. Das Ergebnis der Untersuchung passt nicht zu den bisherigen Befunden zur bedeutenden Rolle von Juden im Silberhandel, kann diese aber auch nicht modifizieren (vgl. 62f.). Unklar muss zwangsläufig bleiben, ob der geschilderte Wertheimer Fall das Normale oder die Ausnahme repräsentiert.
In seiner Gesamtheit scheint mir der Band einen unausgewogenen Eindruck von der Bedeutung von Kaiser und Reich für das jüdische Leben in der Frühen Neuzeit zu liefern: Man kann wohl für die meisten Untertanen im frühneuzeitlichen Reich annehmen, dass sie nie in direktem Kontakt mit einer höheren Obrigkeit standen. Dies galt mit Sicherheit auch für Jüdinnen und Juden, deren alltägliche Konflikte keineswegs regelmäßig vor den Reichsgerichten gelandet sind, wie es die Auswahl der Beiträge suggeriert. Ein wesentlicher Aspekt des Reichs wurde außerdem negiert: die Rolle der größeren Territorien und des dort stattfindenden Staatsbildungsprozesses (Bürokratisierung, Militarisierung, Fiskalisierung). Gerade nach dem Dreißigjährigen Krieg kam es auch dort zur vermehrten Ansiedlung von Jüdinnen und Juden. Einfluss auf die jüdische Bevölkerung in diesen größeren Territorien, deren Untertanen durch zahlreiche Appellationsprivilegien generell von der Reichsjustiz abgeschnitten waren, hatten weder Kaiser noch die Reichsgerichte. Hintergrund dieser Fehlstelle erscheint mir eine sehr verkürzte Sicht der Herausgeber auf das Reich zu sein: Auch wenn Besonderheiten eingestanden werden (12), wird das Reich im europäischen Kontext als "keineswegs ungewöhnlich" (11) bezeichnet. Damit werden wesentliche Unterschiede verwischt; die Funktionen der Reichskreise (die mancherorts keinerlei Rolle spielten) oder der Reichsarmee (die nie eine "gesamtstaatliche" Armee aller Reichsstände war) werden mit Bezug auf Joachim Whaley wenig differenziert skizziert. Generell wird der "hohe[...] Stellenwert" (12) "der Regierungspolitik und Herrschaftspraxis der kaiserlichen Zentrale" betont (ebd.). Hingegen wird den "Entwicklungen in den [großen] Territorien" (12) wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Bezeichnung des Projekt-Clusters, aus dem der vorliegende Band hervorging, als "Jüdisches Heiliges Römisches Reich", das sogar räumlich verortet werden kann (vgl. 72), stellt ebenfalls die Bedeutung der Reichsebene stark in den Vordergrund. Welche Rolle Kaiser und Reich für den Schutz der marginalen jüdischen Bevölkerung spielten, kann kaum durch eine einseitige Konzentration auf mindermächtige Reichsstände und auf Basis von Einzelfallstudien zu Konflikten von Individuen oder Gemeinden adäquat analysiert werden. Hierzu wäre, zumindest ergänzend, ein systematischer Ansatz "von oben" (Kaiserhof, Reichsinstitutionen) unter Einbeziehung der territorialen Politik notwendig. Insgesamt bietet der Band jedoch eine Vielzahl interessanter Studien und einen Einblick in aktuelle Themen eines lebendigen Forschungsfeldes, an dem die Herausgeber keinen unwesentlichen Anteil haben.
Anmerkungen:
[1] Beiträge von Rainer S. Elkar: Grafschaft Wertheim im Konflikt mit Frankfurt; Stefan Ehrenpreis: Fürstentum Brandenburg-Bayreuth im Konflikt mit Nürnberg.
[2] Beiträge von Vera Kallenberg: Grafschaft Hanau (Hessen-Kassel), Reichsritter von Thüngen; J. Friedrich Battenberg: Ganerbschaft Buseckertal; Gerhard Rechter: Reichsritter Crailsheim und Seckendorff.
[3] Beiträge von Urusla Reuter: Worms; André Griemert: Schlettstadt; Thomas Lau: Buchau; Verena Kasper-Marienberg: Frankfurt; Anette Baumann: Hamburg.
Peter Rauscher