Frédéric Bozo / Marie-Pierre Rey / N. Piers Ludlow et al. (eds.): Visions of the End of the Cold War in Europe, 1945-1990 (= Studies in Contemporary European History; Vol. 11), New York / Oxford: Berghahn Books 2012, VIII + 358 S., ISBN 978-0-85745-288-7, USD 95,00
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Wie kein anderes Ereignis symbolisiert der Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 das nahe Ende des Ost-West-Konfliktes. An vielen Orten wurde der Mauerfall im Jubiläumsjahr 2009 künstlerisch interpretiert: In Berlin wurde eine lange Reihe mannshoher Dominosteine dort umgestoßen, wo das steinerne Bauwerk die Menschen so lange getrennt hatte; in London schmolz langsam eine Mauer aus Eis vor der deutschen Botschaft ins Nichts, und in Paris würdigte die Ausstellung "Mur de Berlin: Artistes Pour la Liberté" mit Skulpturen namhafter Künstler den Fall der Berliner Mauer.
Diese künstlerischen Interpretationen offenbaren unterschiedliche Perspektiven auf die Teilung Deutschlands durch den Eisernen Vorhang und das Ende des Ost-West-Konfliktes. Der vorliegende, von Frédéric Bozo, Marie-Pierre Rey, N. Piers Ludlow und Bernd Rother herausgegebene Band widmet sich ebenfalls solch unterschiedlichen Perspektiven: Er beleuchtet Visionen des Endes des Kalten Krieges "that were articulated and offered before the end of the Cold War" (2). Diese Visionen in den Blick zu nehmen, solle, zumindest indirekt, dazu beitragen zu verstehen, warum der Ost-West-Konflikt endete, "and how it actually ended peacefully and rapidly" (5).
Die Herausgeber widmen sich damit einem interessanten Untersuchungsgegenstand. Obwohl sich die Mächte auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nach Ausbruch des Kalten Krieges zunächst immer weiter voneinander entfernten und sich der Konflikt zum Teil dramatisch vertiefte, lag seinem Beginn auch gleichzeitig das Nachdenken darüber zugrunde, wie er beendet werden könnte. Dabei, so die Herausgeber, waren die Autoren solcher Überlegungen so vielfältig wie die Visionen selbst.
Während George Kennans und Charles de Gaulles' Gedanken zum Ende des Ost-West-Konflikts als "visionary" zu bezeichnen seien, hätten andere Akteure wie Willy Brandt, François Mitterrand oder Michail Gorbatschow evolutionäre Thesen vertreten. Wieder andere wie Margaret Thatcher standen eher für eine Negativvision oder hätten sich wie Henry Kissinger weniger mit dem Ende des Konflikts befasst als damit, wie er zu managen sei (3).
Mit dieser Klassifizierung, die die Herausgeber in ihrer Einleitung vornehmen, deutet sich bereits an, welche möglichen Akteure der Band in den Blick nimmt. Es sind in der Hauptsache einzelne Staatsmänner und -frauen verschiedener Perioden des Ost-West-Konfliktes nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wie Kennan, de Gaulle, Franz Josef Strauß, Brandt, Thatcher, Gorbatschow oder Ronald Reagan, die in den insgesamt 21 Beiträgen thematisiert werden. Einige Beiträge widmen sich auch transnationalen Prozessen oder Gruppen, die Gedanken zum Ende des Ost-West-Konfliktes entwickelten. Hierzu zählen die Bilderberg Gruppe, die "EC Nine", die Charta 77 oder der Helsinki-Prozess.
Die Beiträge folgen sehr stringent der skizzierten Leitfrage und sind durch ihre knappe, aus den Quellen gearbeitete Form auch für diejenigen sehr geeignet, die einen ersten Einstieg oder Überblick über die jeweiligen Themen erhalten möchten. Die Auswahl der verschiedenen Persönlichkeiten und Akteure, anhand derer der Gegenstand untersucht wird, bedingt, dass der Fokus des Bandes vorwiegend auf die politischen und nicht so sehr auf die zivilgesellschaftlichen Akteure gerichtet ist.
Der Band ist chronologisch aufgebaut und teilt sich in 7 Kapitel. Die Mehrzahl der Beiträge behandelt Überlegungen zum Ende des Ost-West-Konfliktes, die westlich des Eisernen Vorhangs entstanden. Wie John L. Harper zum Auftakt ausführt, entwarf George Kennan, Autor des "Langen Telegramms", in seinem "Program A" den Plan eines vereinten, demokratischen, entmilitarisierten Deutschlands, in dem sich die vier Besatzungsmächte an die Peripherien des Landes zurückzögen. Noch standen die Zeichen allerdings nicht günstig für diese Vision; "nearly everyone who counted rejected Program A", fasst Harper das Scheitern von Kennans bis 1949 verfolgtem Kurs zusammen (24).
Der französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing teilte nicht dieselbe Vision zum Ende des Ost-West-Konfliktes wie sein amerikanischer Amtskollege Jimmy Carter, führt Georges-Henri Soutou aus. Giscard hielt die konfrontative Menschenrechtspolitik der USA sogar für hinderlich, um menschliche Kontakte und Handel über die Blockgrenze hinweg zu fördern. Dennoch schien es ihm in kurzfristiger Perspektive nicht sinnvoll, Handel mit der Sowjetunion zu entwickeln. Giscard erachtete den Niedergang der kommunistischen Ideologie und den chinesischen Druck auf Moskau als gewichtigere Faktoren, die auf Dauer eine Veränderung des bestehenden Systems fördern könnten. Anders als de Gaulle schrieb Giscard diesen Faktoren aber langfristige, und keine kurz- oder mittelfristigen, Wirkmöglichkeiten zu (214).
Marilena Gala beschließt den Band aus westlicher Perspektive mit einer differenzierten Analyse von Ronald Reagans "Strategic Defense Initiative" (SDI). Sie argumentiert, dass Reagans Motivation hinsichtlich Rüstungskontrollbemühungen mit der Sowjetunion durch eine tief sitzende Angst vor einem nuklearen Krieg genährt wurde. Dies widersprach zwar seiner Entscheidung, den Rüstungswettlauf zu verschärfen, führte aber nicht dazu, von einer der beiden Überlegungen Abstand zu nehmen (313). Vielmehr verknüpfte Reagan beides, um ein defensives ballistisches System in den politischen Prozess einzubringen (313). Reagans Vision in nuklearer Hinsicht und insbesondere "the radical alteration of jargon Reagan imposed through his almost dogmatic stance on SDI" habe dazu beigetragen, den Ost-West-Konflikt zu beenden, weil er in Michail Gorbatschow einen Gegenspieler hatte, der einige der unorthodoxen Ideen Reagans hinsichtlich nuklearer Fragen teilte (319f).
Gedanken, die auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zum Ende des Ost-West-Konflikts entstanden, sind im Vergleich zu den Beiträgen aus westlicher Perspektive in der Minderheit. Geoffrey Roberts und Vladislav Zubok untersuchen jeweils Moskauer Perspektiven in den 1940er und 1950er Jahren. Christian Domitz' Beitrag zeigt auf, welche Hoffnungen auf Veränderung sich mit dem KSZE-Prozess verbanden und entwickelt Jiří Hájeks Vision einer stärkeren Rolle der Zivilgesellschaft bei diesen Veränderungen. Gregory F. Domber widmet sich polnischen Intellektuellen aus der Gegend in und um Warschau, die sich zunächst beim KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) und später bei Solidarność engagierten, wie u. a. Adam Michnik. Domber kommt zu dem Schluss, dass die Entwicklungen in Polen stark zum Ende des Kalten Kriegs beitrugen; "however, the ultimate ends were unintentional consequences of its [Poland's] domestic agenda" (236). Weitere Beiträge, die den geografischen Rahmen des Bandes mehr nach Osten erweitert und die Beiträge um weitere Ostblockländer wie die DDR ergänzt und weiter ausdifferenziert hätten, wären durchaus wünschenswert gewesen.
In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber, dass der Band nicht "the umpteenth book on the end of the Cold War itself" sei (2). Vielmehr sollen die Aufsätze neue Perspektiven auf den gesamten Kalten Krieg durch ein von der historischen Forschung noch nie systematisch genutztes Prisma eröffnen (2). Dies gelingt dem Band. Es sind nicht nur die hier vorgestellten Visionen selbst, die einen interessanten Blick auf ein bereits vielfach erforschtes Feld ermöglichen; vielmehr richtet sich der Blick des Betrachters unweigerlich auf den Entstehungszusammenhang der jeweiligen Vision. Diese, von den Herausgebern als wichtiges Strukturelement des Bandes betonte Kontextualisierung ist höchst lesenswert. Da er u. a. die Ansichten so bekannter Persönlichkeiten wie Margaret Thatcher, Charles De Gaulle, Willy Brandt und Henry Kissinger behandelt, kann nicht jede Überlegung ein vollkommen neues Licht auf die vorhandene Forschung werfen. Die Stärke des Bandes liegt sicher auch darin, das von den Herausgebern intendierte Panorama auf die Zeit des Kalten Kriegs und seines Endes zu eröffnen.
Anja Hanisch