Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München: DVA 2012, 1052 S., ISBN 978-3-421-04458-7, EUR 34,99
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Hans-Peter Schwarz ist der Biograph der großen christdemokratischen Bundeskanzler. Er versteht es, ihre Lebenswege breit aufgefächert zu erzählen und in treffenden Formulierungen auf den Punkt zu bringen. Er ist zugleich ein Meister des Epochengemäldes. Über Konrad Adenauer hat er eine zweiteilige Biographie sowie einen pointierten Essay mit resümierenden "Anmerkungen" verfasst, außerdem einen Doppelband über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der frühen Bundesrepublik. [1] In der politischen Biographie Helmut Kohls hat Schwarz diese drei Ansätze in einem Buch zusammengeführt. Die Studie ist eine umfangreich angelegte Darstellung der langen politischen Karriere des Kanzlers der deutschen Einheit, ein mit spitzzüngigen, teils ironischen Aperçus gewürztes Porträt des "Schwarzen Riesen" aus der Pfalz und die Summe der intellektuellen Auseinandersetzung des emeritierten Bonner Politikwissenschaftlers mit "seiner" Bundesrepublik. Die biographische Darstellung wird fünf Mal unterbrochen, um Betrachtungen über Grundfragen der deutschen Geschichte nach 1945 anzustellen: über die Generation von 1945; über den Strukturbruch am Ende des langen Nachkriegsbooms; über die kurzen 1980er Jahre; über die Einordnung der Wiedervereinigung in den größeren Gang der deutschen Geschichte; und über die Neuordnung Europas nach dem Ost-West-Konflikt.
Der Autor nähert sich seinem Gegenstand mit einer Mischung aus Sympathie und Skepsis. Einfühlsam schildert er die politischen Anfänge im rauen Klima des Ludwigshafener Milieus der Arbeiter und kleinen Angestellten, in dem wichtige Weichen für den Politikstil und die Grundüberzeugungen des späteren Kanzlers gestellt wurden. Den Aufstieg durch die Gliederungen der Partei bis in die Mainzer Staatskanzlei, zum Parteivorsitz der CDU und zur Kanzlerkandidatur 1976 beschreibt Schwarz mit erkennbarer Bewunderung für die Energieleistung des Kraft- und Machtmenschen Kohl. Als Markenzeichen des Parteipolitikers arbeitet er dessen Fähigkeit zur geschickten Allianzbildung, das Auge für aufstrebende Talente in seinem Gefolge und die Bereitschaft zum begrenzten Risiko der gezielten Konfrontation mit etablierten Platzhirschen wie dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Peter Altmeier oder CDU/CSU-Fraktionschef Rainer Barzel heraus. Die Leistung Kohls als Oppositionsführer in den Jahren 1976 bis 1982 bestand aus Schwarz' Sicht darin, in der Bonner Schlangengrube gegen den Rivalen Franz-Josef Strauß politisch überlebt und an der langfristigen Perspektive einer Koalition mit der FDP festgehalten zu haben.
Historische Bedeutung bescheinigt der Autor dem Atlantiker Kohl, der am Anfang seiner Kanzlerschaft in der Auseinandersetzung um die Stationierung amerikanischer Pershing II-Raketen die eigene Partei und die Koalition "mit brutaler Kraft zum Vollzug des Nachrüstungsbeschlusses gezwungen" habe (345), obwohl Hunderttausende gegen diese Politik auf die Straße gingen. Sechs Jahre später zahlte sich das Vertrauen aus, das Kohl in jenen Monaten bei den Amerikanern, besonders beim damaligen Vizepräsidenten George Bush, erworben hatte. Die mittlerweile gut erforschte Zeit zwischen dem Sommer 1989 und dem Spätherbst 1990 bewertet auch Schwarz als Kohls geschichtliche Sternstunde. Ohne den innerparteilichen und außenpolitischen Entfesselungstrick, den der Kanzler in diesen eineinhalb Jahren vollführte, würden ihn die Historiker "wohl ziemlich unisono als exemplarischen Parteiboß, aber bloß mittelmäßigen Bundeskanzler porträtieren, den seine verzweifelte Partei schließlich abmeierte" (491).
Kohls innen-, vor allem wirtschaftspolitische Leistung vor und nach der deutschen Einheit beurteilt Schwarz kritisch. Der Kanzler hielt Schwarz zufolge im Konfliktfall prekäre Kompromisse in seiner Koalitionsregierung für wichtiger als bestimmte Ergebnisse in der Sache. Der heimliche Held dieser Passagen ist Finanzminister Gerhard Stoltenberg, dem im Zusammenspiel mit den Wirtschaftsministern Otto Graf Lambsdorff und Martin Bangemann von der FDP die Konsolidierung des Bundeshaushalts vor 1989 zu verdanken war. Kohl sei als gemäßigter Reformer nur deswegen über die Runden gekommen, "weil er den Marktwirtschaftler Stoltenberg zur Seite hatte, der primär sachorientiert operiert, keine störenden Machtspielchen betreibt und es dem Regierungschef gegenüber an Loyalität niemals fehlen lässt" (332).
Kohls Leidenschaft erkennt der Autor mit guten Gründen in der Europapolitik. Auf diesem Feld habe der Kanzler nicht, wie anderswo, vornehmlich taktiert, sondern eine langfristige Strategie verfolgt, die ausgeprägten Überzeugungen entsprang. Als Fernziel habe ihm noch Ende der 1980er Jahre eine Art Bundesstaat vorgeschwebt, mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einem vom Europäischen Parlament legitimierten parlamentarischen Entscheidungssystem und getragen von einem europäischen Solidaritätsbewusstsein, "wie es bis dahin nur die inzwischen zu klein gewordenen Nationalstaaten" hatten (411f.). Zu seinem Konzept gehörte Schwarz zufolge schon vor dem Herbst 1989 die Aufgabe der D-Mark, auf die insbesondere Frankreich, aber auch Italien und Spanien drängten. Die Wiedervereinigung sei dabei "durchaus nicht der entscheidende Vorgang" gewesen (485). Mit dieser These setzt Schwarz einen neuen Akzent. Die zeitgeschichtliche Forschung hat bisher die Bedeutung der deutschen Einheit und der damit verbundenen Neujustierung der Kräfte in Europa als Gründe für die Schaffung des Euro herausgestrichen.
Tatsächlich hatte Außenminister Hans-Dietrich Genscher schon 1988 Pläne für eine Währungsunion lanciert. Kohl hatte sich das Projekt, nach anfänglichem Zögern, prinzipiell zu Eigen gemacht, bevor die friedliche Revolution in Ostdeutschland begann. Es gab jedoch starke Gegenkräfte in der Bundesbank, im Finanz- und Wirtschaftsministerium, selbst im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt, die gern auf Zeit gespielt hätten, um die Einheitswährung auf eine unbestimmte Zukunft zu vertagen. Der Umbruch im Osten erhöhte den Zeitdruck und gab der französischen Diplomatie einen Hebel in die Hand, einen festen Fahrplan für den Weg in die Währungsunion durchzusetzen. Zudem dürfte Kohl in den entscheidenden Wochen um die Jahreswende 1989/90 den Eindruck gewonnen haben, ohne Zugeständnisse drohe eine Isolation Deutschlands in Europa, möglicherweise auch eine französische Blockade bei den anstehenden 2+4-Verhandlungen.
Die Vorgeschichte des Euro wird umstritten bleiben, bis alle Dokumente zugänglich sind. Aus heutiger Sicht spricht einiges für die Einschätzung von Schwarz. Der französische Präsident und dessen Mitstreiter aus den Weichwährungsländern der EU, schreibt er in einer vernichtenden Bilanz über Kohls Europapolitik, hätten den idealistischen und gutgläubigen Kanzler "zum langfristigen Schaden aller Beteiligten dazu überredet, ausgerechnet das Geldwesen zum Gegenstand eines verfrühten Großexperiments zu machen, das sich auf lange Sicht eigentlich nur als sehr riskant herausstellen konnte". Nun müsse Kohl am Ende seiner Tage erleben, wie durch den Euro "der Gemeinsame Markt bedroht und das viel umfassendere Projekt Europa diskreditiert wird" (935 f.).
Hans-Peter Schwarz hat den Lebensweg des Kanzlers der deutschen Einheit ebenso urteilssicher wie fair beschrieben. Solange nicht alle Akten offen liegen, wird seine große Kohl-Biographie ihresgleichen suchen.
Anmerkung:
[1] Hans Peter Schwarz: Die Ära Adenauer 1949-1957, Stuttgart/ Wiesbaden 1981; ders.: Die Ära Adenauer 1957-1963, Stuttgart 1983; ders.: Adenauer. Bd. 1: Der Aufstieg, 1876-1952, Stuttgart 1986; ders.: Adenauer. Bd. 2: Der Staatsmann, 1952-1967, Stuttgart 1991; ders.: Anmerkungen zu Adenauer. München 2004.
Dominik Geppert