Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff (Hgg.): Göttlicher Zorn und menschliches Maß. Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 28), Konstanz: UVK 2013, 218 S., ISBN 978-3-86764-404-4, EUR 29,00
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Welche Konsequenzen hatten religiöse Abweichungen für die soziale und politische Ordnung städtischer Gemeinwesen? Dieser Leitfrage gehen die Beiträge im vorliegenden Sammelband nach, der Teilergebnisse des Projekts "Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit" präsentiert. Darin geht es nicht um eine abschließende Bewertung der genannten Phänomene. Der Sammelband bietet den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der TU Dresden vielmehr eine Plattform, auf der sie die Erträge ihrer Arbeit im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 804 "Transzendenz und Gemeinsinn" präsentieren können.
Das Fundament für die sechs Einzelstudien liefert die ausgesprochen lesenswerte Einführung der beiden Herausgeber. Sie umreißen unter dem Titel "Religiöse Devianz in alteuropäischen Stadtgesellschaften" (9-43) das Forschungsfeld, indem sie zunächst die normative Entwicklung innerhalb der Städte seit dem Spätmittelalter skizzieren. Die dabei deutlich werdende "Verobrigkeitlichung" (12) setzen die Herausgeber stimmig mit den zugrunde liegenden städtischen Grundwerten in Bezug, die im Begriff des bonum commune zusammenfließen. Dieser bekannte Leitbegriff wird allerdings genauso relativiert wie das ebenfalls seit vielen Jahren in der Forschung verwendete Leitbild einer städtischen Sakralgemeinschaft. Gerade die bunte Vielfalt religiös devianten Verhaltens und die ebenso große Varianz obrigkeitlicher Reaktionen legen es nahe, mit diesen Begriffen vorsichtiger zu operieren und bei der Untersuchung urbaner Konfliktfelder "einen differenzierteren Zugang zum Ordnungsgefüge der städtischen Gesellschaften und ihren religiösen Abweichungen zu finden" (26). Theoretische Grundlage der diesem Ziel verpflichteten Einzelbeiträge ist der aus der Kriminalitätsgeschichte entlehnte labeling approach. Damit wird eine methodologische Perspektive bezeichnet, deren Grundidee in der Annahme besteht, dass ein bestimmtes Verhalten erst durch die Reaktion der Gesellschaft bewertet und gegebenenfalls als abweichend klassifiziert wird.
Dieser Zugang erweist sich insbesondere im Aufsatz von Alexander Kästner (183-214) als äußerst fruchtbar. Am Beispiel des Leipziger Essighändlers Andreas Meister, der 1640 als "Erzketzer" denunziert wurde, kann er sehr schön zeigen, wie religiöse Devianz konstruiert wurde, um einen nachbarschaftlichen Konflikt auf eine offizielle, amtliche Ebene zu heben und dadurch ganz profane Interessen zu verfolgen. Auch bei der Interpretation des Konflikts um den Prediger Georg Amandus im sächsischen Kondominat Schneeberg 1524/25 (93-122) erweist sich der labeling approach als hilfreich. Franziska Neumann kann die bisherige Etikettierung des Geistlichen als Schüler von Karlstadt überzeugend relativieren und deutlich machen, dass die zeitgenössische Beurteilung von Georg Amandus das Resultat eines kontinuierlichen Aushandlungsprozesses war, in dessen Verlauf höchst unterschiedliche Devianzkonzepte zum Tragen kamen (120). Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt Eric Piltz, der die Reaktion der Obrigkeit auf religiöse Devianz in Antwerpen in den Jahren 1562-65 untersucht (123-154). Interessant dabei ist nicht nur die latente Wirksamkeit ökonomischer Motive, sondern auch die Beobachtung, dass die katholische Seite eher mit dem Label der Häresie arbeitete, während die protestantische Seite das Label der Gottlosigkeit verwendete (152).
Nicht ganz so überzeugend erscheinen die drei anderen Beiträge. Die Autoren haben zwar für ihre Studien interessante Fallbeispiele ausgewählt und sich auch intensiv mit den jeweils relevanten Primärquellen auseinander gesetzt. Der Ertrag für die Devianzforschung bleibt jedoch hinter den Möglichkeiten zurück. Dies liegt im Fall von Tim Deubel daran, dass er über das genaue Nachzeichnen der Auseinandersetzung mit dem religiösen Abweichler Antoine Lescaille in Basel von 1590-92 kaum hinausgelangt (155-182) und am Ende einräumen muss, dass die Motive für die Art des Umgangs mit Lescaille nicht näher beschrieben werden können (179). Die Interpretation der Ereignisse auf der Grundlage des theoretischen Ansatzes der Dresdner Forschergruppe ist kaum erkennbar. Annette Scherer arbeitet demgegenüber bei ihrer Analyse der Nürnberger Strafrechtsgutachten ganz gezielt mit dem Instrumentarium des labeling approach (73-92) und gelangt damit zu dem Ergebnis, dass der religiösen Haltung der Betroffenen, die von bestimmten Etikettierungen abgeleitet wurde, große Bedeutung beigemessen worden sei (92). Da sie sich allerdings nur auf 9 Gutachten aus einem Gesamtkorpus von 532 Dokumenten stützten kann und letztlich nur zwei Fallbeispiele etwas näher betrachtet, steht die Argumentation - zumindest im Moment noch - auf etwas schwachen Beinen. Auch bei Claudius Sebastian Frenzel erscheint die Quellengrundlage auf den ersten Blick etwas knapp. Gerade mal 2,1 % der Polizeygesetze der Reichsstadt Ulm werden für seine Studie herangezogen, in der er die Argumentation mit dem Zorn Gottes analysiert (45-71). Auf den gesamten Untersuchungszeitraum von 1491-1630 bezogen sind das aber immerhin 55 Verordnungen. Der Befund, dass die Obrigkeit im Laufe des 16. Jahrhunderts immer häufiger mit dem drohenden Zorn Gottes argumentierte, um ihre Verordnungen zu legitimieren, dürfte damit durchaus hinreichend belegt sein. Schade ist hier, dass der Autor bei der textimmanenten Interpretation seiner Quellen stehen bleibt. Das führt nicht nur zu Missverständnissen, wie zum Beispiel der Bezeichnung der Truppen Karls V. im Schmalkaldischen Krieg als "päpstliches Heer" (63), sondern auch zu einer etwas schiefen Interpretation, wenn das Fehlen religiöser Argumente bei der Bekämpfung des Zutrinkens mit einer Ermahnung an die städtischen Wachen, während des Dienstes keinen Wein zu trinken, belegt wird. Wird der zeitgeschichtliche Hintergrund mit berücksichtigt, das heißt der Umstand, dass die Stadt Ulm am 26. April 1552, dem Tag der Verabschiedung des oben genannten Mandats, von den Truppen des Markgrafen Albrecht Alkibiades belagert wurde, dann wird schnell klar, dass in einer solchen Situation, die Notwendigkeit eines zuverlässigen Wachdienstes offenkundig war und keiner zusätzlichen Legitimation bedurfte.
Damit kann und soll der Zugriff auf das Thema, für den sich das Team um Gerd Schwerhoff entschieden hat, nicht in Zweifel gezogen werden. Der labeling approach erweist sich grundsätzlich als hilfreiches theoretisches Instrument, um dem Phänomen der religiösen Devianz in der komplexen Wirklichkeit städtischer Gesellschaften während der frühen Neuzeit näher zu kommen.
Peer Frieß