Robert S. C. Gordon: The Holocaust in Italian Culture, 1944-2010, Stanford, CA: Stanford University Press 2012, X + 284 S., ISBN 978-0-8047-6345-5, USD 80,00
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Erst seit den 1990er Jahren begann in der Geschichtsschreibung eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit den politischen und sozialen Ursachen von Antisemitismus und Judenverfolgung im faschistischen Italien, die mit Enzo Collottis Untersuchung über Entstehung und Folgen der faschistischen Rassengesetzgebung ("Il fascismo e gli ebrei", 2003) sowie Michele Sarfattis Werk "La Shoah in Italia" (2005) ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Die Tendenz der Forschung geht neuerdings verstärkt dahin, die italienische Erinnerung und Darstellung des Holocaust als kultur- und diskursgeschichtliches Phänomen in den Blick zu nehmen. [1] Intensiviert hat diese historiographische Tendenz sicherlich auch die seit einigen Jahren anhaltende, politisch aufgeladene Debatte über die Konzeption des ersten italienischen Holocaust-Museums in Rom, das bis heute auf seine ursprünglich für 2008 vorgesehene Eröffnung wartet. [2]
Robert S. C. Gordons vorliegende Untersuchung bewegt sich innerhalb der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion. Der Autor weist bereits zu Beginn auf eben dieses "ungelöste Fallbeispiel" des Museo della Shoah in Rom hin; der komplexe, problembehaftete Holocaust-Diskurs in Italien ist in seinen Augen mit dem bislang gescheiterten Versuch, diesem kulturelle Form zu verleihen, eng verknüpft (12). Der in Cambridge lehrende Professor für Modern Italian Culture richtet den Blick auf den Zeitraum von 1944 bis 2010 mit dem Ziel, das "weite Feld kultureller Antworten" auf den Holocaust in Italien erstmals umfassend zu analysieren (3). Gordon vertritt die These, dass der italienische Holocaust-Diskurs über das historische Phänomen der Shoah weit hinausgeht, da er in der Vergangenheit wie heute häufig zur Maskierung unbequemer Fragen - u. a. den Faschismus, die Resistenza, die Politik des Kalten Krieges und die Rolle der katholischen Kirche betreffend - dient/e.
Die Studie stützt sich hauptsächlich auf Unterlagen des Centro di documentazione ebraica contemporanea in Mailand, italienische Zeitschriften und Tageszeitungen v. a. des Mitte-Links-Spektrums, einige Audio-Quellen und schließlich eine relevante Auswahl an Film-Material. Das umfassende Verzeichnis der einschlägigen Sekundärliteratur enthält die aktuellen englischsprachigen wie italienischen Arbeiten zum Thema; eine Einbeziehung auch französischer und israelischer Werke hätte die von Gordon zum Schluss aufgezeigte transnationale Perspektive seiner Studie womöglich noch überzeugender herausgearbeitet.
Der Autor gliedert seine Arbeit in zwei Hauptteile. Der erste Teil enthält im Anschluss an die Einleitung ein Kapitel über das erwähnte Projekt des Holocaust-Museums in Rom, in dem Gordon auf der "Mikro-Ebene" den öffentlichen Umgang mit der Shoah in Italien analysiert. Das dritte Kapitel des ersten Teils bildet dagegen den Versuch, aus der "Makro-Perspektive" ein Modell für das gesamte Feld der Holocaust-Kultur in der italienischen Nachkriegszeit zu entwickeln. Gordon erläutert hier anhand ausgewählter Beispiele die Funktionen und Überschneidungen von insgesamt vier Sphären: die "institutionelle Sphäre" in Form von Verbänden der ehemaligen politischen Deportierten, Partisanen, der Union der jüdischen Gemeinden Italiens etc., die "akademische Sphäre", die "kulturelle Sphäre" im Sinne von Darstellungen, Geschichten, Bildern, Orten und Jahrestagen, und schließlich die Sphäre von Informationsindustrie und Medien.
Im zweiten Teil des Buches werden die Produkte dieser vier Sphären einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Kenntnisreich und mit analytischem Feingespür richtet Gordon den Fokus zunächst auf die frühesten und noch unvollständigen Holocaust-Narrative in Italien seit den 1940er Jahren, um anschließend auf die bis heute den italienischen Holocaust-Diskurs maßgeblich prägende Persönlichkeit und das Werk des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi einzugehen. Der zweite Teil enthält zudem ein Kapitel über die Stadt Rom und deren Bedeutung als zentralem Ort der Nachkriegserinnerung an die Shoah, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Erinnerungsorten wie den Fosse Ardeatine. Kapitel 7 des zweiten Teils thematisiert die Sprache (von Literatur bis Popsongs), Kapitel 8 die Geschichtsschreibung über italienischen Faschismus, Antisemitismus und Krieg. Der Autor geht hier auf zwei Stereotype des italienischen Nationalcharakters ein, die "Grauzonen" und den "guten Italiener", die insbesondere seit den 1980er Jahren eingesetzt wurden, um die problembehafteten moralischen Grenzbereiche italienischer Kollaboration, Schuld und Unschuld in Beziehung zu Faschismus, Krieg und Holocaust zu umschiffen. Das neunte Kapitel schließlich zeigt auf, wie die Weitergabe kulturellen Wissens und kultureller Darstellung der Shoah in jedem Land stets mit internationalen und transnationalen Entwicklungslinien und Netzwerken verbunden ist.
Das letzte Kapitel "After such knowledge" behandelt das intensivierte öffentliche Interesse in Italien an der Shoah im Zeitraum zwischen den späten 1980er Jahren und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang Gordons Ausführungen zum ersten nationalen Holocaust-Gedenktag in Italien 2001. Anhand einer Auswertung von Tageszeitungen, Fernseh- und Radiosendungen erläutert der Autor die zum Teil wieder heftig aufflammenden Diskussionen nicht nur über die jüdischen Opfer der Shoah, sondern vor allem auch über die Rolle Italiens und nichtjüdischer Italiener während des Zweiten Weltkriegs. Der erste Holocaust-Gedenktag in Italien fiel in eine Phase des Wahlkampfs, in der das Gedenken an die Ermordung der europäischen Juden eine komplexe Verbindung mit den ideologisch aufgeladenen, konkurrierenden Erinnerungen an nationalsozialistische, faschistische und kommunistische Verbrechen einging: "[...] the Day of Memory uncovered issues of affect and subjectivity, of personal memory as identity, as well as issues of public politics, past and present." (205)
Das Verdienst der materialreichen, detaillierten und elegant geschriebenen Studie liegt darin, dass Gordon die Holocaust-Erinnerung in der italienischen Kultur, ihre Entwicklungen und Ausdrucksformen über einen mehr als sechzig Jahre langen Zeitraum erstmals umfassend analysiert hat. Dem Autor gelingt es, auch einem breiten, internationalen Leserpublikum das schwierige Holocaust-Erbe Italiens im Kontext nationaler Täter- wie Opfer-Erinnerung verständlich zu machen. Seine Untersuchung leistet einen bedeutenden Beitrag zur italienischen Nachkriegsgeschichte und bildet darüber hinaus einen wichtigen Bezugspunkt für weiterführende Arbeiten zur Interaktion zwischen nationalen und transnationalen Bereichen des Gedenkens an die Ermordung der europäischen Juden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Emiliano Perra: Conflicts of Memory: The Reception of Holocaust Films and TV Programmes in Italy, 1945 to the Present, Oxford 2010; Stefania Lucamante: Quella difficile identità. Ebraismo e rappresentazione letterarie della Shoah, Rom 2012.
[2] Vgl. Ruth Nattermann: "Italian Commemoration of the Shoah: A Survivor-Oriented Narrative and Its Impact on Politics and Practices of Remembrance", in: Bo Stråth / Małgorzata Pakier (ed.): A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, Oxford / New York 2010, 204-216.
Ruth Nattermann