Andreas Gorzewski: Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam (= Bonner Islamstudien; Bd. 17), Schenefeld: EB-Verlag 2010, 331 S., ISBN 978-3-86893-009-2, EUR 24,80
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Sind Aleviten Muslime? Eine Frage, die in der Fremdzuschreibung ganz unterschiedlich beantwortet wurde; Anhänger des orthodoxen Islam wie auch "westliche" Forscher im frühen 20. Jahrhundert haben sie zuweilen verneint. Bei Aleviten selbst jedoch, soweit wir dies den spärlichen Quellen entnehmen können, stand die Zugehörigkeit zum Islam lange Zeit nicht zur Disposition. Mit der Urbanisierung und Politisierung des Alevitentums ab den 1980ern jedoch wurde auch für Alevitinnen und Aleviten die Positionierung ihrer Denomination gegenüber dem Islam zunehmend zu einer zentralen Frage der Kollektividentität und auch zu einem Streitthema, das bis zum heutigen Tag ausgetragen wird.
Die Dissertation von Andreas Gorzewski, eingereicht im Jahr 2009 an der Universität Bonn unter der Betreuung von Stephan Conermann, greift dieses Themenfeld auf. Dabei stehen nicht religionswissenschaftliche Kriterien im Vordergrund, die eine Zugehörigkeit zum Islam verifizieren oder falsifizieren könnten, sondern der Diskurs innerhalb der alevitischen Community in der Türkei und in Deutschland: Wie verorten sich in der Türkei und in Deutschland lebende Alevitinnen und Aleviten gegenüber dem Islam? Dabei nimmt Gorzewski alevitische Intellektuelle und Verbandsfunktionäre in den Blick und rekonstruiert anhand ihrer publizierten Texte unterschiedliche Verhältnisbestimmungen zum Islam. Obgleich sich Religionssoziologen und Ethnologen wie Martin Sökefeld, Krisztina Kehl-Bodrogi oder Élise Massicard im Zuge der Erforschung alevitischer Identitätsprozesse mit dieser Frage beschäftigt haben, fehlte bis dato eine differenzierte Auseinandersetzung. Diese Lücke wird mit der zu besprechenden Arbeit geschlossen.
Nach einer kurzen Darstellung zur Genese des Alevitentums stellt Gorzewski die Entwicklung des verbandspolitisch organisierten Alevitentums hauptsächlich ab den 1980ern in der Türkei und in Deutschland ausführlich dar (Kapitel 2 und 3, 26-99). In Kapitel 4 widmet er sich der Konstruktion einer alevitischen Kollektividentität und stellt in diesem Zusammenhang Verhältnisbestimmungen zum Islam in Einzelaspekten der Glaubenslehre und -praxis dar (100-175). Im 5. Kapitel untersucht er verschiedene pauschale Auffassungen, die das Alevitentum als einen Teil des Islam verstehen - sei es als eine islamische Rechtsschule (mezheb), als Derwischorden (tarîkat), begrifflich weiter gefasst als "Weg" (yol) oder als türkische bzw. anatolische Auslegung des Islam (176-221). Daran anschließend diskutiert Gorzewski in Kapitel 6 Auslegungen, denen zufolge das Alevitentum eine vom Islam unabhängige synkretistische Glaubensform, kurdisch-religiöse Tradition oder Philosophie, respektive ein Lebensstil sei (222-255). Im Anschluss resümiert er die Auswirkungen dieser Debatte auf die alevitischen Communities in der Türkei und in Deutschland (256-287).
Das alevitische Kollektivbewusstsein - und dies betrifft fast alle Verhältnisbestimmungen zum Islam - ist von einer akzentuierten Differenz zum sunnitischen und schiitischen Islam geprägt. Selbst alevitische Akteure, die das Alevitentum dezidiert als einen Teil des Islam betrachten, betonen diese Differenz. Die Exklusion sunnitischer und schiitischer Ritualpraktiken und Glaubensvorstellungen stellen einen elementaren Aspekt des alevitischen Kollektivbewusstseins dar (108), das häufig zu einer kontrastiven "Wir-Ihr-Dichotomie" (116) in diesen Einzelaspekten der Glaubenslehre und Glaubenspraxis führt: Sunniten beten in Moscheen, Aleviten in der Cem-Zeremonie; Sunniten fasten im Ramadan, Aleviten während des islamischen Monats Muharrem usw. Zuweilen geht diese Dichotomie auch mit einer Moralisierung einher, in dem das Eigene moralisch auf- und das Fremde abgewertet wird. Zentral hierbei ist ein kollektives Geschichtsbewusstsein, das die sunnitische Seite seit jeher als Unterdrückende und die alevitische als Unterdrückte versteht (161 f.). Hinsichtlich dieser "Basisdifferenz" (17) zum sunnitischen Islam und den damit zusammenhängenden Verhältnisbestimmungen nach Einzelaspekten besteht Grozewski zufolge bei dem Gros der alevitischen Verbandsfunktionären und Intellektuellen, mit wenigen Ausnahmen, weitestgehend Konsens (123; 174; 256).
Der Zwist entsteht bei der Frage, wie man diese offenkundige Differenz zum orthodoxen Islam nun in einem pauschalen Beziehungsverhältnis bewerten soll. Die Tatsache, dass das Alevitentum bis ins 20. Jahrhundert hinein eine weitestgehend oral tradierte Denomination war, gibt der Debatte eine sehr weite Bandbreite an Deutungsmöglichkeiten. Während der Großteil der alevitischen Intellektuellen versucht, den Absolutheitsanspruch des sunnitischen Islam zur Bestimmung, was denn nun zum Islam gehöre und was nicht, zu delegitimieren und das Alevitentum als einen wie auch immer gearteten Teil des Islam versteht, postulieren andere das Alevitentum als unabhängige Glaubensform, Kultur oder Philosophie. Akteure, die das Alevitentum im Islam verorten, versuchen zumeist mit einer Revision sunnitischer und schiitischer Geschichtsschreibung ihre Position zu legitimieren. Die vom orthodoxen Islam als obligatorisch verstandenen Ritualpraktiken, um die es letzten Endes fast immer geht, werden als spätere historische Konstruktionen bewertet, die es in der islamischen Urgemeinde um den Propheten Mohammed und Imam Ali nicht gab (198 f.). Bei der Verortung der Aleviten als eigenständiges Kollektiv unabhängig vom Islam werden zumeist die offenkundigen islamischen Elemente als Ergebnis exogener Faktoren betrachtet: Aus Furcht vor Verfolgungen seitens der Muslime hätten die Aleviten im Spätmittelalter nur oberflächlich den Islam angenommen und takiye betrieben. So dient der Verweis auf die takiye, also die bewusste Leugnung der religiösen Zugehörigkeit bzw. die Annahme einer anderen aus Schutzgründen, als ein Universalargument, islamische Elemente im Alevitentum historisch zu erklären und somit deren Bedeutung zu relativieren (255). Ob Teil des Islam oder unabhängig vom Islam - die Verhältnisbestimmungen sind auch innerhalb dieser beiden Auffassungen sehr divergent. Der synkretistische Charakter des Alevitentums, der sowohl von der Wissenschaft als auch von einem Großteil der benannten Akteure weithin akzeptiert wird, dient hierbei als ein "Versatzstück, das Intellektuelle und Verbandsvertreter nach Belieben für ihre Argumentation verwenden können", wie Gorzewski schlussfolgert (254). So lassen sich leicht bestimmte vor-islamische Elemente je nach Intention überbetonen, wie zoroastrische und mazdakitische Elemente bei pro-kurdischen, oder schamanistische bei pro-türkischen Auslegungen, bzw. auf gleiche Weise relativieren.
Diese divergierenden Auffassungen wirken sich in Deutschland und in der Türkei auf die alevitische Community in politischer sowie in religiös-theologischer Sicht unterschiedlich aus: Während in der Türkei nur wenige Funktionäre und Intellektuelle eine Zugehörigkeit zum Islam explizit in Abrede stellen, sind in Deutschland Ansätze, die das Alevitentum als eine unabhängige Glaubensform verstehen, weiter verbreitet. Gorzewski führt dies, ein wenig monokausal, auf unterschiedliche politische Kontexte und Diskurse zurück: In der Türkei sei es nach wie vor schwierig, sich gänzlich von der staatlich diktierten, unitären Nationalidentität zu distanzieren, da dies als Gefährdung der staatlichen Einheit angesehen werden könnte. Demnach seien größere türkische Verbände in der öffentlichen Debatte vorsichtiger, ein vom Islam unabhängiges Alevitentum zu postulieren (262). In Deutschland sei dies nicht der Fall, so dass sich hier mehr Funktionäre vom Islam distanzierten. Dass weitere Gründe für diesen Unterschied in den Auswirkungen der Migration, im Kulturtransfer oder in einem diaspora-bedingten Transformationsprozess liegen könnten, wird von Gorzewski nicht berücksichtigt.
Letztlich schließt Gorzewski die Arbeit mit der These, dass die divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam weiterhin im alevitischen Diskurs relevant bleiben werden; dies stehe einer allseits akzeptierten Vereinheitlichung der alevitischen Lehre im Weg, so dass sich aus dieser Uneinigkeit verschiedene Gruppen entwickeln könnten (286 f.).
Die gut strukturierte Monographie Gorzewkis überzeugt durch eine klare Gliederung und einen stringenten und stets transparenten Argumentationsaufbau. Insbesondere die Aufteilung der Verhältnisbestimmungen in pauschale Verortungen und Positionierungen nach Einzelaspekten sind für die Forschungsfrage signifikant und geben ihr eine entscheidende Tiefenschärfe: Denn trotz eines scheinbaren Konsens in vielen grundlegenden Fragen der Glaubensvorstellung und Ritualpraxis, existiert eine große Varietät an verschiedenen pauschalen Zugehörigkeitsbekundungen, die sich zum Teil diametral gegenüberstehen. Wichtig sind auch Vermerke auf Debatten innerhalb der jeweiligen Verhältnisbestimmungen. So kann Gorzewski die Ambivalenz der ganzen Debatte mit dieser Differenzierung gut beleuchten. Sehr hilfreich für die Lektüre ist zudem die am Ende beigefügte Autorenliste, die kurz Biographie und Position der zitierten Autorinnen und Autoren skizziert (289-294).
Die Stärke der Monographie, ihre klare Gliederung und der stringente Aufbau, zeigt gleichzeitig auch eine Schwäche der Arbeit auf: Die einzelnen Positionen wirken durch den auflistenden Charakter des Narrativs zuweilen als starre nebeneinander bestehende Verhältnisbestimmungen. Zu wenig geht Gorzewski auf die Debatten und Dynamiken zwischen den verschiedenen Bestimmungen ein und erklärt auch nicht, in welchem Beziehungsgefüge sie zueinander stehen; ob sich die divergierenden Bestimmungen gegenseitig begünstigen oder sogar bedingen. Auch werden zu selten die historiographischen Behauptungen der alevitischen Intellektuellen und Verbandsfunktionäre mit dem wissenschaftlichen Diskurs abgestimmt. Dies mag zwar nicht der Hauptgegenstand der Arbeit gewesen sein, aber es wäre für die Verortung der Bestimmungen sicherlich nützlich gewesen. Zudem ist die Auswahl der zitierten alevitischen Autorinnen und Autoren nicht immer nachvollziehbar: Es steht außer Frage, dass eine Berücksichtigung aller Akteure, die sich in den letzten Jahrzehnten zum Alevitentum äußerten, nicht möglich gewesen wäre. Allerdings übergeht Gorzewski durchaus einflussreiche Personen, die in den genannte Debatten eine sehr wichtige Rolle einnehmen, wie etwa Halil Öztoprak, einer der ersten öffentlich wirksamen alevitischen Gelehrten und Vertretern eines Alevitentums als "wahre" Auslegung des Islam, oder auch Mehmet Bayrak, der seit Jahrzehnten mit zahlreichen Publikationen ein "pro-kurdisches Alevitentum" avisiert.
Allerdings sei angemerkt, dass die Berücksichtigung dieser Texte die Gesamtheit der Monographie und ihre Argumentation nicht nennenswert in eine andere Richtung gelenkt hätte. So ist die Dissertation von Gorzewski eine wichtige Studie zum Verständnis der inneralevitischen Debatte in der türkischen und deutschen Öffentlichkeit über das Verhältnis des Alevitentums zum Islam. Sie arbeitet gut die Schwierigkeiten und auch Ambivalenzen einer Glaubensgemeinde heraus, die sich lange Zeit ausschließlich auf orale Tradierung stützte und sich im Zuge moderner Transformation- und Identitätsprozesse mit neuen Problemen konfrontiert sieht.
Anmerkungen:
[1] Insbesondere vertreten durch Georg Jacob und Frederick William Hasluck, die beide im Bektaschi-Orden wie auch im Alevitentum das Fortbestehen antiker Heiligenkulte und lokaler christlicher Denominationen sahen: Georg Jacob: Die Bektaschijje in ihrem Verhältnis zu verwandten Erscheinungen, München Abhandlungen der Königlich-Bayerischen Akademie der Wissenschaft, phil.-hist. Klasse, Bd. 24/3. München 1909; Frederick William Hasluck: Christianity and Islam under the Sultans, Oxford 1929.
[2] Martin Sökefeld: Sind Aleviten Muslime? Die alevitische Debatte über das Verhältnis von Alevitentum und Islam in Deutschland. In: Martik Sökefeld (Hg.): Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, Bielefeld 2008, 195-218; Kristzina Kehl-Bodrogi: Von der Kultur zur Religion. Alevitische Identitätspolitik in Deutschland, Berlin 2006; Élise Massicard: L'autre Turquie. Le movement aléviste et ses territores, Paris 2005.
Cem Kara