Christoph Buchheim / Marcel Boldorf (Hgg.): Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie 1938-1945 (= Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien 77), München: Oldenbourg 2012, IX + 270 S., ISBN 978-3-486-70950-6, EUR 54,80
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Ende 2009 verstarb viel zu früh Christoph Buchheim, viele Jahre Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Mannheim. Der zu besprechende Sammelband geht auf eine 2007 am Münchner Historischen Kolleg abgehaltene Tagung zurück, an dem Buchheim das Vorhaben einer umfassenden Wirtschaftsgeschichte der NS-Zeit verfolgte, leider ohne es noch abschließen zu können. Daher ist der Band, der Beiträge von Autoren aus vielen Ländern Europas und der USA versammelt, auch als späte Würdigung dieses Arbeitsfeldes Buchheims zu verstehen. Er widmet sich mit der Untersuchung der verschiedenen Ausprägungen deutscher wirtschaftlicher Hegemonie über immer größere Teile Europas im Vorfeld und während des Zweiten Weltkriegs einem Thema, das in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit findet. Dieses Interesse ist zum einen auf die Untersuchung der europäischen Aktivitäten verschiedener deutscher Unternehmen im Gefolge der militärischen Expansion zurückzuführen, aber auch auf ein gewachsenes Interesse der Historiker in den ehemals annektierten oder besetzten Staaten selbst, neben den politischen auch die wirtschaftshistorischen Implikationen der Besatzungsherrschaft zu untersuchen. Entsprechend heterogen ist der gegenwärtige Forschungsstand, und hier setzt der Sammelband an: Er will "die internationalen Forschung stärker miteinander [...] verzahnen" (1), wie der Mitherausgeber Marcel Boldorf in der Einleitung unterstreicht. Hier markiert Boldorf zugleich einige wesentliche Themen, die in den weiteren Aufsätzen immer wieder aufgenommen werden: Etwa die unterschiedlichen Prämissen, unter denen die deutsche Besatzungsherrschaft im Osten (mit dem Ziel einer Versklavung der eroberten Gebiete) und im Westen (unter Gewährung partieller Autonomie, abgestuft je nach Position im deutschen Herrschaftsgefüge) stand. Ferner diskutiert die Einleitung verschiedene die NS-Forschung prägende Begriffe wie den der "Polykratie" und deren Anwendbarkeit auf wirtschaftspolitische Entscheidungen. Schon in der Einleitung grenzt sich Boldorf von früher üblichen klaren Periodisierungen ab, wonach bei der Besatzungspolitik einer "Plünderungsphase" erst mit einiger Verzögerung die umfassende Ausrichtung der jeweiligen Volkswirtschaften auf die deutsche Kriegswirtschaft folgte. Und schließlich lässt er keinen Zweifel daran, dass trotz aller Lenkungsinstrumente und Regulierungsmaßnahmen besonders in den westeuropäischen besetzten Gebieten das Privateigentum nicht außer Kraft gesetzt wurde (wenn man von den rassistisch motivierten Enteignungen absieht), eine Interpretationslinie, die an die Ergebnisse einer Reihe von Mannheimer Doktorarbeiten anknüpft.
Der erste Abschnitt des Bandes konzentriert sich allerdings zunächst auf die Lebensbedingungen der Bevölkerungen in West- und Osteuropa unter der deutschen Besatzungsherrschaft, wobei exemplarisch Dänemark (Steen Andersen) und die besetzten Teile der UdSSR (Sergei Kudryashov) untersucht werden. In Dänemark verschlechterten sich die Lebensbedingungen während der deutschen Besatzung aufgrund der stark gestiegenen Arbeitslosigkeit und der bis 1941/42 ebenfalls stark wachsenden Lebenshaltungskosten, deren Anstieg erst danach durch schärfere Kontrollen begrenzt werden konnte. Eine gewisse Linderung der Arbeitslosigkeit brachten die Investitionen der Wehrmacht in Befestigungsanlagen, die auch den ausführenden dänischen Unternehmen nützten. Außerordentlich wichtig für die deutsche Besatzungsmacht war ferner die dänische Leistungsfähigkeit auf dem Agrarsektor - in den letzten beiden Kriegsjahren machten dänische Fleischexporte etwa 10 Prozent des deutschen zivilen Verbrauchs aus, und das bei einem nur geringfügig beeinträchtigten Verbrauch der dänischen Bevölkerung. Hier wird schon schlaglichtartig ein zentraler Unterschied zur Situation in den besetzten Teilen der UdSSR deutlich: Sergei Kudryashov beleuchtet in seinem Beitrag auf der einen Seite die schon gut erforschte Hungerpolitik der deutschen Besatzungsmacht, untersucht auf der anderen Seite aber auch die gedrückten Lebensbedingungen der Einwohner größerer Städte, zumal die vollkommen unzureichende Nahrungsmittelversorgung aufgrund der Requirierungen und die Entstehung von Schwarzmärkten.
Ein zweiter Abschnitt befasst sich mit der "Nutzung besetzter Gebiete für die deutsche Kriegswirtschaft". Hier fragt Jonas Scherner konkret nach der Bedeutung der militärischen Auftragsverlagerung in die besetzten Gebiete für die Rüstungsproduktion Deutschlands. In seinem klar argumentierenden Beitrag schildert er zunächst die Mechanismen der Auftragsverlagerungen und kommt nach einer detaillierten Analyse der kaufkraftbereinigten Werte der ausländischen Rüstungsproduktion für die Wehrmacht zu dem Ergebnis, dass die stärksten Anstiege schon vor dem Ende der "Blitzkriegsphase" zu verzeichnen sind, und damit deutlich vor dem Amtsantritt Albert Speers als Minister für Bewaffnung und Munition - ein weiterer Baustein für die schon seit längerem zu verzeichnende Relativierung des vorgeblichen "Rüstungswunders" in der Ära Speer. Der Frage der Finanzierung der Besatzungskosten in den drei westeuropäischen Staaten Frankreich, Belgien und den Niederlanden wendet sich Kim Oosterlinck zu und konzentriert sich dabei auf das Rätsel, wie es diesen Staaten gelang, bei der eigenen Bevölkerung und Banken erfolgreich in stark steigendem Umfang Schuldtitel unterzubringen. Letztlich war dies, so eines der Ergebnisse, auf den Mangel an Anlagealternativen zurückzuführen.
Der umfangreichste dritte Abschnitt des Bandes konzentriert sich auf Aspekte der Wirtschaftslenkung und die Auswirkungen auf die Unternehmen in verschiedenen besetzten Gebieten. Frankreich spielte hier eine wichtige Rolle, wie der Beitrag von Marcel Boldorf zeigt. Boldorf skizziert detailliert zunächst den Aufbau einer Wirtschaftsorganisation und relativiert zugleich überzeugend die Bedeutung der häufig überschätzten "Organisationskomitees", einer Art Pendant zu den Wirtschaftsgruppen im Reich. Daran schließt sich ein Überblick über verschiedene Aspekte der ökonomischen Ausbeutung Frankreichs und die dazu eingeführten Mechanismen an, von der Zentralauftragsstelle (Zast) über währungspolitische Instrumente bis hin zur (sonst in diesem Band nur am Rande behandelten) Rekrutierung von Zwangsarbeitern. Ebenfalls auf Frankreich bezieht sich der Beitrag von Hervé Joly, der sich speziell der Erfahrung von Unternehmen unter der deutschen Besatzungsherrschaft widmet. Zum einen betont Joly die erstaunlich geringen Eingriffe sowohl der deutschen Militärverwaltung wie auch des Vichy-Regimes in die Eigentumsverhältnisse; nur in wenigen Ausnahmefällen gab es Eingriffe in die Personalstrukturen des höheren Managements. Allerdings trieb das Vichy-Regime die "Arisierungen" aktiv voran, zum einen motiviert auch vom Antisemitismus in der französischen Gesellschaft, zum anderen, um eine Veräußerung der Unternehmen in jüdischem Besitz an deutsche Interessenten zu verhindern.
Einen weiteren, ebenfalls unternehmenshistorischen Schwerpunkt dieses Abschnitts bildet die Untersuchung von Jaromír Balcar und Jaroslav Kučera zu unternehmerischen Handlungsspielräumen im Protektorat Böhmen und Mähren. Den erstaunlich hohen Rüstungsausstoß der hier ansässigen Betriebe erklären die Autoren mit der Kooperationsbereitschaft des tschechischen mittleren Managements. Diese wiederum sehen die Autoren in mittelfristigen betriebswirtschaftlichen Überlegungen begründet - allerdings fragt sich der Leser, wie der Rüstungsausstoß so hoch ausfallen konnte angesichts der vielen anschaulich geschilderten Hindernisse etwa bei der Rohstoffversorgung. Überzeugender fällt dagegen die Analyse der hohen Bedeutung von funktionierenden Netzwerkbeziehungen zwischen den Akteuren vor Ort und den Entscheidungsträgern in Berlin aus. Insgesamt weist der Fall des Protektorats doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten eher mit den westeuropäischen als mit den osteuropäischen Besatzungsgebieten auf.
Weitere Untersuchungen zum Generalgouvernement (Andrzej Wrzyszcz) und zur Strategie der deutschen Großbanken (Harald Wixforth) beschließen diesen Abschnitt, und auch die Rolle neutraler Länder wird in zwei Beiträgen von Harold James zur Schweiz und von Jordi Catalan zu Spanien näher untersucht. Insgesamt wird in der vergleichenden Zusammenschau deutlich - und das ist ein Verdienst des Bandes, ohne dass hier auf alle Beiträge eingegangen werden konnte -, eine welch große Bedeutung die unterschiedlichen staatsrechtlichen Rahmenbedingungen sowohl für den Charakter der wirtschaftlichen Ausbeutung als Ganzes besaßen, als auch für die Handlungsspielräume der Unternehmen in den besetzten Gebieten, die mit der deutschen Besatzungsmacht kooperierten und dabei ihre eigenen Strategien zu verfolgen suchten.
Michael C. Schneider