Francis J. Gavin: Nuclear Statescraft. History and Strategy in America's Atomic Age, Ithaca / London: Cornell University Press 2012, X + 218 S., ISBN 978-0-8014-5101-0, USD 35,00
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Auch Historiker leben nach wie vor im Atomzeitalter. Bis zum heutigen Tage gab es zu keinem Zeitpunkt eine realistische Aussicht, dass die internationale Politik tatsächlich ohne den Faktor Kernwaffen auskommen würde. Das Thema staatliche Kernwaffenpolitik füllt Archive und Bibliotheken.
Aber welches analytische Verständnis haben wir tatsächlich von jenem Atomzeitalter, vom Faktor Kernwaffe in der internationalen Politik und von der Nuklearwaffenpolitik einzelner Staaten? Halten gängige Narrative, Theorien und Prämissen über Kernwaffenpolitik im Licht deklassifizierter Quellen überhaupt stand, die mitunter gänzlich neue, historische Einblicke in jenes Thema klassischer Geheimpolitik ermöglichen? Was war bzw. ist Mythos und was Realität?
Diesen Grundsatzfragen geht der Historiker Francis J. Gavin im Blick auf die Geschichte der ''nuclear statecraft'' der Vereinigten Staaten von Amerika in seiner vielgepriesenen und bahnbrechenden Aufsatzsammlung nach. Mehrheitlich sind die Aufsätze bereits als historische Fallstudien überwiegend in renommierten Fachzeitschriften erschienen und werden an dieser Stelle in zumeist modifizierter Form erneut publiziert. Sie erscheinen zusammen mit einer neuen Einleitung, einem konzeptionellen Anfangskapitel über typische Herausforderungen und Ziele einer ''nuclear history'' und mit einer abschließenden Bestandsaufnahme der in jüngster Zeit kontrovers geführten Diskussion nach einer Welt ohne Kernwaffen.
Die Aufsätze umreißen in ihrer Gesamtheit den Höhenkamm einer empirisch gesättigten ''nuclear history" der US-amerikanischen Kernwaffenpolitik der 1960er und 1970er Jahre. Wie Gavin verdeutlicht, ist diese Geschichte nicht rein im Blick auf die USA denk- oder verstehbar. US-amerikanische ''nuclear history" war regelmäßig mit Allianz- und geopolitischer Ordnungspolitik verwoben. Als solche ist sie auch für die europäische und deutsche Geschichte von fundamentaler Bedeutung.
Mit großer Präzision durchkämmt Gavin analytisch stets durchdringend und thesenstark die Geschichte der US-amerikanischen Atomwaffenpolitik und macht klar, dass ''nuclear history'' bisher insgesamt unzureichend und mitunter schlicht unzutreffend verstanden worden ist. Nicht nur kommt Gavin etwa zu dem desillusionierenden Ergebnis, dass die US-Nuklearstrategie der flexible response ab 1961 ein Mythos gewesen sei - ''a rhetorical policy and nothing more'' (113). Entgegen der zeitgenössisch kultivierten Vorstellung der nuklearen Eskalationskontrolle habe hinter verschlossenen Türen in Washington die Ansicht dominiert, dass eine wie auch immer geartete Limitierung des Nuklearkrieges nicht umsetzbar sei (30-56).
Ein Hauptaspekt, dem sich das Buch widmet, ist die Geschichte der Nichtverbreitung von Kernwaffen und der US-amerikanischen Nichtverbreitungs- bzw. NV-Politik. Auch diesem hochaktuellen Thema nähert sich Gavin historisch an im Blick auf die Etablierung des Atomwaffensperrvertrages während der 1960er Jahre. Hier liegt die größte Stärke des Buches. Jüngst hat sich Gavin bereits an anderer Stelle historisch-kritisch in die sozialwissenschaftlich dominierte Debatte über die Folgen der Verbreitung von Kernwaffen eingeschaltet. Dabei hat er dokumentiert, wie empirisch anfechtbar ein rein theoretischer Zugang zu dieser Materie ist, in dem Unzulänglichkeiten theoretisch-deduktiver Erklärungsansätze überdeckt werden, die Gavin mit historischer Empirie offenlegt. Die Anfänge dieser Debatte zeigen bereits, dass eine quellengesättigte ''nuclear history'' den interdisziplinären Austausch stimulieren und die Erforschung des Atomzeitalters auf ein neues Niveau anheben kann. [1]
In ''Nuclear Statecraft'' beleuchtet Gavin in mehreren Fallstudien zu den 1960er und frühen 1970er Jahren, wie inkonsistent die US-amerikanische NV-Politik in der Abfolge der US-Administrationen und wie hochumstritten die Etablierung des Atomwaffensperrvertrages innerhalb der US-Administrationen tatsächlich gewesen ist. Während die Kennedy-Administration nicht nur Großbritannien Nuklearhilfe angedeihen ließ und unter anderem auch Frankreich mehrere Offerten machte, hinterfragten Nixon und Kissinger bereits die Ausgangsprämisse, wonach eine Vermehrung der Anzahl von Kernwaffenstaaten per se nicht wünschenswert sei. Dementgegen intensivierte die Johnson-Administration nach dem ersten chinesischen Atomwaffentest 1964 die US-Nichtverbreitungspolitik mit dem Ziel eines internationalen NV-Vertrages mit universellem Geltungsanspruch. Schon dieser Kurswechsel sei in Washington hochgradig umstritten gewesen, da er enorme politische Kosten und diverse Risiken aufgeworfen habe (75-103). Wie Gavin zusammenfasst, verdeutlicht diese historische Erkenntnis: ''nonproliferation policies can be costly, and overreaction can be as dangerous as inaction'' (155). Gavin selbst misst dem Atomwaffensperrvertrag sehr geringe bis keine Wirkung bei bezüglich der Entscheidung von Nichtkernwaffenstaaten, ein eigenes Kernwaffenarsenal aufzubauen oder dies zu unterlassen (164).
Zudem kritisiert Gavin das Narrativ des ''nuclear alarmism'', wonach die Verbreitung von Kernwaffen sowohl als wahrscheinlich, als auch als eine sehr große Gefahr angesehen werden müsse (134-156). Die Vermehrung der Anzahl von Kernwaffenstaaten sei tatsächlich überraschend gering ausgefallen. Zudem postuliert er eine ''fundamental lesson'': ''the mere existence of these weapons does not create the danger, and, in fact, nuclear weapons can be a stabilizing force'' (169). Im Unterschied zu ''nuclear sanguinists'' betont Gavin allerdings auch, dass sich die Verbreitung von Kernwaffen tatsächlich nicht immer stabilisierend ausgewirkt hätte - etwa im Fall einer sich zur Nuklearmacht aufschwingenden Bundesrepublik Deutschland zur Zeit des Ost-West-Konflikts. Auch wenn kein Weg an der Tatsache vorbeiführe, dass der Krieg unter Großmächten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs rund sieben Jahrzehnte lang ausgeblieben sei, hätten Kernwaffen nicht nur stabilisierend gewirkt. Kernwaffen hätten vielmehr auch Konflikte katalysiert, da sie ihre Besitzer unter anderem einer ''temptation to do more with nuclear weapons than simply deter attacks on one's homeland'' ausgesetzt hätten (168). Auch die Vorstellung vom Kalten Krieg als eines ''Long Peace'' (John L. Gaddis) aufgrund der vermeintlich rein stabilisierenden Wirkung von Kernwaffen im Verhältnis der Supermächte sei also ''misleading, if not belied outright by the facts'' (155).
Gavins Buch ist sprachlich und argumentativ luzide, verdeutlicht, welche Potentiale in einer quellenstarken ''nuclear history'' liegen und ruft zu dem auf, was Gavin einfordert: eine fallbeispielzentrierte, empirische Analyse der ''nuclear history'' im internationalen Rahmen, um übergeordnete Grundsatzfragen und damit auch Vergangenheit und Gegenwart besser verstehen zu können, anstatt theoretischen oder politisch-mythologischen Narrativen zu folgen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Scott D. Sagan / Kenneth N. Waltz: The Spread of Nuclear Weapons. An Enduring Debate. With New Chapters on Iran, Iraq, and North Korea, and on the Prospects for Global Nuclear Disarmament. 3. Aufl. New York / London 2012; Francis J. Gavin: Politics, History and the Ivory Tower-Policy Gap in the Nuclear Proliferation Debate, in: The Journal of Strategic Studies 35 (2012), 573-600; Scott D. Sagan / Kenneth N. Waltz: Political Scientists and Historians in Search of the Bomb, in: The Journal of Strategic Studies 36 (2013), 143-151.
Andreas Lutsch