Eran Rolnik: Freud auf Hebräisch. Geschichte der Psychoanalyse im jüdischen Palästina, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 285 S., ISBN 978-3-525-36992-0, EUR 59,99
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Auf der Basis einer Vielzahl unveröffentlichter Quellen, wie Briefe Sigmund Freuds an seine Familie und dem Nachlass Max Eitingons aus dem Israelischen Staatsarchiv, untersucht der israelische Historiker und Psychoanalytiker Eran Rolnik den Weg der Psychoanalyse ins Palästina der Mandatzeit und fertigt dabei eine faszinierende Beschreibung des vorstaatlichen Israels an. Die vorliegende Studie ist eine Übersetzung des 2007 erschienenen hebräischen Originals und wurde 2012 auch auf Englisch veröffentlicht.
Rolnik verbindet die spätere Gründung der Psychoanalytischen Gesellschaft in Palästina mit der jüdischen Diaspora-Erfahrung in Europa seit dem späten 19. Jahrhundert. In diesem Zeitraum entstanden mit dem Sozialismus, dem Zionismus und der Psychoanalyse drei Bewegungen, die sich dafür interessierten, wie der "neue Mensch" (21) aussehen sollte. Ihnen allen war die Überzeugung gemein, dass durch die Erneuerung umfassender Erziehungsprogramme nicht nur der Körper des Einzelnen, sondern auch dessen Seele gesunden müsse. Auf Freuds distanziertes Verhältnis zum Judentum ist immer wieder mit Recht hingewiesen worden. Wie sehr Freud jedoch auch den Zionismus ablehnte, weist Rolnik anhand bislang unveröffentlichter Briefe nach. Für Freud war zudem zeitlebens klar, dass es sich bei der Psychoanalyse nicht um eine "jüdische Wissenschaft" (35) handeln dürfe. Hier argumentierte er ganz als assimilierter Jude in der Diaspora, der die Assimilation lebte. Eine spätere Emigration nach Palästina kam auch nach dem so genannten Anschluss für Freud deshalb nicht in Frage. Der Umstand, dass eine Vielzahl seiner Schriften zeitnah nach ihrem Erscheinen auf Deutsch in Palästina ins Hebräische übersetzt wurde, berührte Freud jedoch tief. Die Übersetzung von Freuds Werken allen voran "Massenpsychologie und Ich-Analyse" (75) sollte das Verhältnis von Individuum und Kollektiv mit dem Blick auf das Erziehungssystem in Palästina entscheidend prägen (43-47). In diesem Zusammenhang nahmen in Palästina Diskurse um die Psychohygiene eine zentrale Funktion ein. So verstandene psychopathologische Besonderheiten der Juden wurden hier vor der speziellen Situation in Palästina beleuchtet, die eine "Verschmelzung von Erziehung, Zionismus und psychischer Gesundheit" (172) einforderten. Hier stellt Rolnik den Zusammenhang zum zionistischen Erziehungsgedanken mit der eigenen Skepsis gegenüber der bürgerlichen Familie dar, die eine Fokussierung auf den Kollektivgedanken nur noch verstärkte und gleichzeitig die Abgrenzung von der Diaspora-Existenz vorantrieb.
Insbesondere die Vertreibung der jüdischen Psychoanalytiker im aus dem von Deutschen kontrollierten Mitteleuropa stellte für die Vertriebenen aber auch für die institutionelle Anbindung der Psychoanalyse ganz neue Herausforderungen dar. Ein Erzählstrang geht im Buch der zentralen Rolle Max Eitingons (1881-1943) nach, der bereits in Wien und später in Berlin größter Geldgeber der Psychoanalytischen Gesellschaft war und der auch Freud immer wieder privat finanziell unterstützte, aber auch zu dessen wichtigstem Vertrauten wurde. Insbesondere im Verlauf der 1920er Jahre etablierte sich die Psychoanalyse gleichwohl im Berlin der Weimarer Republik auch als sozialkritische Theorie. Von 1925 bis 1932 bekleidete Eitingon das Amt des Präsidenten der Internationalen Analytischen Vereinigung. Besonders dramatisch stellten sich die Ereignisse nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten dar, als sich herausstellte, dass die Psychoanalytische Gesellschaft nicht weiter von Eitingon und seinen jüdischen Mitarbeitern geführt werden konnte.
Die Exilsituation von Eitingon und anderen Psychoanalytikern brachte es gleichzeitig mit sich, dass über die persönlichen Erfahrungen der Vertreibung verbunden mit Verlust und Trennung nicht gesprochen wurde. Ähnlich verhielt es sich bereits zuvor mit der jüdischen Identität vieler Psychoanalytiker, einschließlich Freuds selbst, der sich zudem in privaten Briefen ablehnend gegenüber dem Zionismus ausdrückte. Da traf ihn die Emigration Eitingons nach Palästina, mit der er nicht gerechnet hatte und stattdessen davon ausgegangen war, Eitingon würde sich in Wien niederlassen, unvorbereitet. Als Eitingon das Jerusalemer Psychoanalytische Institut 1933 mit der Bibliothek und den Akten des Psychoanalytischen Instituts aus Berlin gründete, kühlte die Beziehung insbesondere von Freuds Seite merklich ab (162).
Auch die Situation in Palästina war von zahlreichen Spannungen zwischen den Repräsentanten im Jischuw und den emigrierten Psychoanalytikern überschattet. Es gelang Eitingon nicht, die neu gegründete Psychoanalytische Gesellschaft in Palästina an der Hebräischen Universität zu etablieren (148). Zu stark waren einerseits die administrativen Vorbehalte dagegen. Andererseits machten aber Gerüchte und üble Nachrede auch ausgewiesenen Fachleuten die Ausübung einer Tätigkeit unmöglich, wie beispielsweise der Vorwurf gegenüber Martin Pappenheim zeigt, dieser verfüge über "nichtzionistische Motive" (140). Dies machte seine Anstellung als Leiter der in Planung begriffenen psychiatrischen Klinik in Tel Aviv unmöglich.
Das Buch bietet einen wegweisenden Beitrag zum Selbstverständnis des Jischuw vor der Staatsgründung. Es gelingt Eran Rolnik eindringlich nachzuzeichnen, wie sich die ursprünglich auf das Individuum zielende Perspektive der Psychoanalyse auf ein das Kollektiv einbeziehendes Selbstverständnis erweiterte. Gleichzeitig wird jedoch auch deutlich, in welchem Maße das Palästina der Zwischenkriegszeit im Ringen nach Zugehörigkeit aus der diasporischen Erfahrung in Europa und der Situation vor Ort in Palästina geprägt war. Da es sich in dieser Studie um den Weg der Psychoanalyse nach Palästina handelt, sei hier nur gestreift, was das Buch nicht liefert: eine Einordnung der Bedeutung von Trauma und Identität in der jüngeren israelischen Gesellschaft. Im Epilog "Dynamit im Haus" (225-231) geht Rolnik auf dieses Forschungsdesiderat jedoch selbst ein und verweist auf die Notwendigkeit, dass künftige Forscher sich dieses Themenkomplexes annehmen sollten.
Carsten Schapkow