Rezension über:

John C.G. Röhl: Wilhelm II. (= C.H. Beck Wissen; 2787), München: C.H.Beck 2013, 144 S., 1 Abb., ISBN 978-3-406-65482-4, EUR 8,95
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Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: John C.G. Röhl: Wilhelm II., München: C.H.Beck 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 10 [15.10.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/10/23618.html


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John C.G. Röhl: Wilhelm II.

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Der britische Historiker Röhl, als exzellenter Kenner des Deutschen Kaiserreichs ausgewiesen, legt eine Kurzfassung seiner dreibändigen Biographie des letzten deutschen Kaisers vor. Was er auf 3000 Seiten quellengesättigt ausbreitet, wird in der Kurzfassung zu einer Generalabrechnung mit dem persönlichen Regiment Wilhelms II. und einer Psychopathisierung des preußischen Monarchen und seiner Entourage. Allein die Kapitelüberschriften machen deutlich, wie wenig Positives Röhl an seinem Protagonisten zu erkennen vermag: "Wilhelm der Letzte, ein deutsches Trauma" - "Der gepeinigte Preußenprinz" - "Der anachronistische Autokrat" - "Der uferlose Weltpolitiker" - "Der skandalumwitterte Souverän" - "Der streitsüchtige Kriegsherr" - "Der größenwahnsinnige Gottesstreiter" - "Der rachsüchtige Exilant".

Röhl betont ausdrücklich, dass Wilhelm II. "kein Diktator" (8) war, sieht ihn vielmehr als Relikt einer vergangenen Geschichtsepoche an. Sein Gottesgnadentum, seine autokratische Herrschaft, sein Militarismus, seine Selbstverliebtheit und die dadurch bewirkte servile Haltung seiner Umgebung waren nach Röhl die Ursachen seines politischen und menschlichen Scheiterns. Ausführlich schildert der Autor Wilhelms Geburt, seine körperlichen Behinderungen, deren Therapieversuche er als "Seelenmord" (10) denunziert. Die Überforderung durch die Mutter und die Erzieher machten ihn "extrem labil und hochgradig emotional" (23). Die Konflikte mit seinen Eltern setzten sich bis nach dem Tod des 100-Tage-Kaisers Friedrich III. fort.

Nach dem Sturz Bismarcks baute Wilhelm II. seine "Persönliche Monarchie" auf. Kennzeichen dieses Herrschaftssystems waren sprunghafte Personalentscheidungen, aufgebaut auf persönlichen Beziehungen in Freundeskreisen und am Hof. Der technikbegeisterte Kaiser umgab sich mit willfährigen Männern, deren homosexuelle Neigungen mit der Zeit offenkundig wurden, so dass die "Eulenburg-Affäre" auch Wilhelm in Mitleidenschaft zu ziehen drohte. Röhl betont zwar, dass Wilhelm II. "nie homosexuelle Handlungen begangen" (75) habe, nimmt ihn aber in die Verantwortung für die Seilschaften, aus deren Kreis politische und militärische Führungspersonen rekrutiert wurden.

Den Hauptteil seiner kurzen Lebensbeschreibung widmet Röhl der Weltmachtpolitik des Kaisers, seiner Favorisierung eines raschen Aufbaus der Kriegsflotte sowie den symbolisch aufgeladenen Reisen, durch die er den Anspruch des Deutschen Reiches auf ausgedehnten Kolonialbesitz unterstreichen wollte. Im Islam sah er einen Verbündeten zum Aufbau dieses Reiches, das er am liebsten in der Mitte Afrikas angesiedelt sehen wollte. Größter Gegner eines solchen ambitionierten Projekts war England, zu dessen Herrscherhaus der Enkel Queen Victorias enge verwandtschaftliche Bande hatte. Russland versuchte der Preußenkaiser im Fernen Osten zu binden; das Misslingen dieses Plans führte zur Entente Frankreich-Russland und damit zur Einkreisung des Deutschen Reiches. Röhl schildert in großer Ausführlichkeit die rasch wechselnden politischen und militärischen Ziele Wilhelms II. sowie die Interviews des Kaisers, die zwar öffentlichkeitswirksam waren, aber jedes Mal diplomatische Verwicklungen hervorriefen.

Einen Schwerpunkt seiner Darstellung legt Röhl auf die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Seit der Bosnienkrise (1908) deutete alles auf eine größere militärische Auseinandersetzung zwischen den europäischen Mächten hin. Wilhelm II. förderte die Aufrüstung, besonders der Schlachtflotte. Seit November 1912 war, so Röhl gegen Fritz Fischer, der Entschluss zum Krieg in Wien und Berlin gefallen, wurde aber aus militärischen und diplomatischen Gründen vertagt. Der Kaiser verhielt sich zwar nach wie vor in der Öffentlichkeit als Kriegstreiber, erwies sich hinter den Kulissen bis Kriegsausbruch doch eher als Zauderer. Das Heft des Handelns übernahmen die Militärs, vor allem Moltke und Falkenhayn. Das Urteil Röhls zum Kriegsausbruch lautet: Wilhelm II. war "noch nicht einmal der Hauptantreiber zum Krieg". Sein Persönliches Regiment hatte eine "dysfunktionale Polykratie sowie eine höfische Kultur" hervorgebracht (120). "So trifft ihn doch schwere Schuld - vielleicht die schwerste überhaupt -, die Urkatastrophe Europas heraufbeschworen zu haben." (120f.)

Während des Krieges schwand der Einfluss des Kaisers immer mehr, vor allem seit der Übernahme des Generalstabs durch Hindenburg und Ludendorff. Wilhelm selbst verlor den Kontakt zur Realität. Seine erzwungene Abdankung war die logische Konsequenz nicht nur der Kriegsniederlage, sondern des Vertrauensverlusts zum Militär. Im niederländischen Exil auf eine Rückkehr auf den Thron hoffend, nicht zuletzt mit Hilfe der Nationalsozialisten, entwickelte er sich zum eliminatorischen Antisemiten, der ein germanisches Christentum, gereinigt von jedem Einfluss der jüdischen Tradition, erträumte.

In der Kurzfassung seiner dreibändigen Wilhelm-Biographie lässt Röhl die psychopathischen Züge des letzten Hohenzollern-Kaisers deutlich hervortreten. Die Ursachen macht er in der Kindheit des Prinzen fest. Nach der Lektüre erscheint es wie ein Wunder, dass in den 30 Jahren Regentschaft Wilhelms Deutschland in wirtschaftlicher, technischer und wissenschaftlicher Hinsicht eine der längsten und prosperierendsten Phasen seiner Geschichte erleben durfte.

Joachim Schmiedl