Marc David Baer: The Dönme. Jewish Converts, Muslim Revolutionaries, and Secular Turks, Stanford, CA: Stanford University Press 2010, XXVI + 332 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-0-8047-6867-2, GBP 60,93
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Das hier zu besprechende Buch hat eine sehr interessante Personengruppe zum Gegenstand, nämlich die im 17. Jahrhundert zum Islam konvertierten Juden, die bis in die 1920er Jahre hauptsächlich in Selanik - dem heutigen Thessaloniki - ihre Heimat hatte. Sie selbst bezeichneten sich auf Hebräisch als die "Rechtgläubigen" (Ma'aminin), doch nannten sie die Osmanen schlicht "Konvertiten" (Dönmeler). Es handelt sich um Nachkommen der Anhänger des charismatischen Rabbi Schabatai Zwi (lebte von 1626 bis 1676). Dieser hatte sich Ende Mai 1665 in Palästina zum Messias und symbolisch zwölf Mitglieder seiner Gemeinde in Gaza zu Repräsentanten der zwölf Stämme Israels erklärt. Sehr schnell konnte er eine große Gefolgschaft um sich versammeln. In seiner Geburtsstadt Smyrna besetzte er nach einigem Zögern noch 1665 die sephardische Synagoge und zog Ende des Jahres gen Istanbul. Die osmanische Administration reagierte umgehend und setzte ihn und seine Leute zu Beginn des Jahres 1666 fest und machte ihm den Prozess. Man stellte ihn vor die Wahl, entweder zum Islam überzutreten oder seine Unsterblichkeit dadurch zu beweisen, dass er einen auf ihn abgegebenen Schuss mit einem Pfeil überlebte. Zusammen mit den meisten seiner Getreuen zog er die Konversion vor. Als Zentrum der "Dönme" etablierte sich am Ende des 17. Jahrhunderts die in der Nordwestägäis gelegene Hafenstadt Selanik.
Vor uns liegt nun die erste Monographie, die die Geschichte der Bewegung von etwa 1850 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts traktiert. Mit Marc D. Baer, der seit 2013 eine Professur für Internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science innehat, nahm sich jemand der Thematik an, der sich bereits in seinem ersten Buch ("Honored by the Glory of Islam: Conversion and Conquest in Ottoman Europe". Oxford 2008) intensiv mit dem problematischen Verhältnis von Konversion, Jihad und imperialen Anspruch im Osmanischen Reich beschäftigt hat.
Das Buch ist klar gegliedert und chronologisch aufgebaut. Der erste Teil ["Ottoman Salonika" (23-80)] setzt sich aus drei Kapiteln zusammen. "Keeping It Within the Family, 1862-1908" (25-43) konzentriert sich auf die für die Dönme typischen Glaubenspraktiken, religiösen Lehren und Abgrenzungsstrategien. Ihre in Selanik errichteten Schulen stehen dann im Mittelpunkt von "Religious and Moral Education: Schools and Their Effects" (44-64), wohingegen "Traveling and Trading" (65-80) ihren sozialen und wirtschaftlichen Netzwerken gewidmet ist. Nach dem Übertritt zum Islam sind die Anhänger von Schabbatai Zwi, so Baer, über 200 Jahre lang innerhalb des Osmanischen Reiches als Muslime akzeptiert worden. Man legte ihnen keine Steine in den Weg und verwehrte ihnen nicht den Zutritt zur osmanischen Gesellschaft. Im Laufe der Zeit konnten sich viele Mitglieder der Dönme in ihrer Heimatstadt etablieren und Zugang zu den höheren Verwaltungsämtern finden. Dies war, wie Baer überzeugend zeigt, möglich und wurde offenbar durchaus akzeptiert, obwohl man selbst streng darauf achtete, sich nicht mit dem Rest der Bevölkerung zu vermischen. Es wurde an einer eigenen ethischen und religiösen Identität festgehalten und mehr oder minder undurchlässige soziale Mauern errichtet. Endogamie und separate Schulen, Moscheen und Friedhöfe waren ebenso an der Tagesordnung wie ein starkes genealogisches Bewusstsein. Und dennoch spielte die Dönme bei der Transformation von Selanik von einer Provinzstadt in ein kosmopolitisches Zentrum im Laufe des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle. Ihre Mitglieder brachten mit ihren innovativen Finanz- und Handelsideen, ihren Reformgedanken und modernen Ansichten zum Erziehungswesen neuen Schwung in die Metropole. Es geht Baer in diesem Teil letztlich um die Herausarbeitung der Weltsicht der Dönme und ihren Einfluss auf die Selanikische urbane Gesellschaft zwischen 1862 und 1908.
Das nun folgende 4. Kapitel ["Making a Revolution, 1908" (83-109)], das bereits zum zweiten Hauptteil ("Between Empire and Nation State" (81-137) gehört, befasst sich mit der Geschichte und den Erfahrungen der Dönme während der sogenannten "Konstitutionellen Revolution" im Osmanischen Reich. Es wird von dem Autor bestens dargestellt, wie viele führende Dönme-Familien zunächst die lokale Politik bestimmten, indem sie nicht nur die Bürgermeister vor Ort stellten, sondern auch in zunehmender Weise bei den Freimaurern aktiv wurden und begannen, in revolutionären Organisationen wie bei dem "Komitee für Einheit und Fortschritt" (İttihat ve Terakki Cemiyeti) mitzuwirken. So übernahmen sie während der Ereignisse von 1908 eine wichtige Rolle, und zahlreiche Mitglieder der Dönme schlossen sich der Aktionsarmee an, die ein Jahr später nach Istanbul gesandt wurde, um eine drohende Gegenrevolution zu zerschlagen. Trotz oder gerade wegen dieser Aktivitäten fingen nationalistisch und auch rassistisch orientierte Kreise in Istanbul an, die Dönme zu diffamieren. Beliebt waren vor allem jüdische Weltverschwörungstheorien, die zu jener Zeit auch in der russischen, deutschen und österreichischen Öffentlichkeit kursierten. Hinzu kamen, so Baer, die allgemeinen Beschimpfungen des Komitees, das in religiösen und konservativen Zirkeln als atheistisch und amoralisch galt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Dönme zweifelte man öffentlich und verdeckt ihren Glauben an und kritisierte ihre religiösen Praktiken und Einstellungen. Ferner warf man ihnen ihre Verbindungen zu ausländischen, feindlichen Kräften in wirtschaftlichen und politischen Netzwerken vor.
Die Lage der Gruppe änderte sich dramatisch, nachdem Selanik 1912 zu Beginn des 1. Balkankrieges von den Griechen erobert worden war. In Kapitel 5 ["Choosing Between Greek Thessaloniki and Ottoman Istanbul, 1912-23" (111-138)] untersucht Baer vor diesem Hintergrund, wie die Dönme auf die neue politische Situation reagierte. In der Stadt, die nun wieder den griechischen Namen Thessaloniki trug, war fortan kein Raum mehr für einen osmanischen Pluralismus. Angesichts zahlreicher institutioneller und persönlicher Angriffe von Seiten der neuen Machthaber entschlossen sich die meisten Dönmeler, Griechenland zu verlassen und in Istanbul eine neue Existenz aufzubauen. Einige ihrer Anhänger blieben trotz der öffentlichen Attacken und administrativen Schwierigkeiten in der Stadt, die ja schließlich ihre Heimat war und in der ihre politischen und wirtschaftlichen Kontakte zusammenliefen. Zehn Jahre lang konnten sie sich noch halten, doch nach der Etablierung der Türkischen Republik im Jahre 1923 wies man alle Mitglieder aus dem Land aus. Griechenland wollte nicht länger "nicht-griechische Elemente", zumal schon niemanden, der über Macht und Geld verfügte, in seinem Nationalstaat dulden.
Es begann die letzte Phase der Geschichte der Dönme, deren Gegenstand der dritte und letzte Teil der Monographie ["Istanbul" (139-241)] darstellt. In dem Unterkapitel "Loosing a Homeland, 1923-1924" (141-154) analysiert Baer sehr schön eben diese Entwicklung im Kontext des allgemeinen Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der Türkischen Republik. Er zeigt, wie die Dönme mit dieser ungewollten Umsiedlung und Vertreibung in einer türkischen Stadt zurechtkam, in der sich immer vehementer nationalistische Ideologeme Bahn brachen und deren in diese Richtung hin ideologisierte Bevölkerung keinesfalls bereit war, die Neuankömmlinge willkommen zu heißen. "Loyal Turks or Fake Muslims? Debating Dönme in Istanbul, 1923-1939" (157-183) nimmt sich daher den in der Türkei in der Öffentlichkeit geführten Auseinandersetzungen um den Glauben und die ethnische Zugehörigkeit der Dönme an. Geschickt zeigt Baer, wie man den neuen Herausforderungen begegnete und wie sich die Gemeinschaft durch die Auseinandersetzungen mit ihnen innerhalb kurzer Zeit in ihrem Wesen und in ihrer Kernsubstanz veränderte. Diese Änderungen ergaben sich vor allem, weil sich nach 1923 eine säkulare türkisch-nationale Identität herausbildete, die im krassen Gegensatz zur religiös-pluralistischen osmanischen Weltsicht und Lebenspraxis stand. Ausgiebig wurde diskutiert, wer ein Türke war und wer nicht. Gerade in Istanbul formierte sich eine ethnozentrische Atmosphäre, in der sich prominente Stimmen zu der Behauptung verstiegen, die Dönmeler seien Juden und Fremde und keine Muslime und Türken. Leider wurden diese Anschuldigungen von vielen Menschen geglaubt und erzeugten daher einen extremen Druck auf die Mitglieder der Gruppe. Es galt allgemein die Gleichung Türke = sunnitischer Muslim, wobei als Türke nur eine Person mit einwandfrei türkischen Ahnen anerkannt wurde. Die letzten beiden Abschnitte ["Reinscribing the Dönme in the Secular Nation-State" (184-212) und "Forgetting to Forget, 1923-1944" (213-241)] beschreiben schließlich, wie die Dönme in der nachfolgenden Zeit letztlich scheiterte, sich in diese türkische nationalistisch-kemalistische Gesellschaft einzugliedern. Zu Beginn wollte man die Praxis der Segregation auch in Istanbul aufrecht erhalten, doch hatte diese Strategie mittelfristig keinen Erfolg. Zu guter Letzt gab man auch das Prinzip der Endogamie auf, was auf lange Sicht gesehen das Ende der Dönme als klar eingegrenzte Gruppe bedeutete.
Baer sieht es als große Ironie an, dass die Dönme, obgleich sie massiv zur Auflösung des Osmanischen Reiches und damit zur Etablierung des türkischen Nationalstaates beigetragen hat, während dieses Transformationsprozesses unter die Räder der Geschichte gekommen ist und sich inmitten der sich neu gestaltenden Kräfte aufgelöst hat. Fast zynisch kommt ihm dabei die Art und Weise vor, wie ambivalent die Gruppe heute erinnert wird: Ihre Anhänger sehen in ihnen aufgeklärte Säkularisten und türkische Nationalisten, die erfolgreich gegen die dunklen Kräfte des Aberglaubens und gegen den religiösen Obskurantismus kämpften. Für ihre Gegner stellen sie Atheisten oder einfach nur Juden dar, die zusammen mit dem 'internationalen Finanzjudentum' zum Untergang des Osmanischen Reichs und zur Errichtung einer säkularen, von einem Krypto-Juden angeführten Republik beigetragen haben.
Marc D. Baer hat eine überzeugende und sehr lesenswerte Studie der Dönme vorgelegt, die nicht einfach zu schreiben gewesen ist. Die Quellen sind nämlich überaus problematisch, da sich die Mitglieder der Gruppe in keiner Weise von Muslimen unterscheiden. Der Historiker muss zwischen den Zeilen lesen und neben chronikalen zahlreiche epigraphische, mündliche, archivalische, literarische und offizielle Texte und Dokumente lesen, auswerten und verarbeiten. Das ist in diesem Fall bestens gelungen.
Stephan Conermann