Martina Hartmann (Hg.): Das Briefbuch Abt Wibalds von Stablo und Corvey (= Monumenta Germaniae Historica. Die Briefe der deutschen Kaiserzeit; Bd. IX), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2012, CLXXVI + 1034 S., ISBN 978-3-7752-1812-2, EUR 150,00
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Martina Hartmann: Studien zu den Briefen Abt Wibalds von Stablo und Corvey sowie zur Briefliteratur in der frühen Stauferzeit (= Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte; Bd. 52), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2011, XVI + 142 S., ISBN 978-3-7752-5712-1, EUR 20,00
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Lena Wahlgren-Smith (ed.): The Letter Collections of Nicholas of Clairvaux, Oxford: Oxford University Press 2018
Steven Vanderputten: Imagining Religious Leadership in the Middle Ages. Richard of Saint-Vanne and the Politics of Reform, Ithaca / London: Cornell University Press 2015
Felix Heinzer / Thomas Zotz (Hgg.): Hermann der Lahme. Reichenauer Mönch und Universalgelehrter des 11. Jahrhunderts, Stuttgart: W. Kohlhammer 2016
Dass Bücher ihre Schicksale haben (habent sua fata libelli), ist gut zweitausend Jahre lang zwar kein Geheimnis mehr, nichtsdestotrotz konnte Martina Hartmann für ihre dreibändige Edition kein treffenderes Eingangszitat wählen. Zunächst deswegen, da das Briefbuch Wibalds von Stablo und Corvey von einem Ort zum andern wanderte, ohne von Unruhen oder den Kriegsjahren irgendwie besonders in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein, und ferner auch deshalb, weil die entfernten Anfänge des wissenschaftlichen Interesses bis ins Jahr 1724 reichen, als Edmond Martène und Ursin Durand, zwei Benediktiner von der Kongregation des Heiligen Maurus, einen wesentlichen Teil von Wibalds Briefen ausgewählt und im Druck zugänglich gemacht hatten. Für ihre Zeit haben sie hervorragende Arbeit geleistet und auch eine jüngere Abschrift (B) berücksichtigt, mit deren Hilfe sie beschädigte oder schwer lesbare Stellen ergänzten, wobei sie zu dem Schluss kamen, dass die Handschrift nicht vollständig sei und in der Vergangenheit die erste Lage mit vierzehn Folia verloren gegangen war.
Die Mauriner Edition konzentrierte sich auf Abt Wibalds Werk, weswegen einige Briefe weggelassen oder lediglich in Fußnoten erwähnt wurden. Sie galt jedoch lange als unersetzlich, und obwohl Georg Wilhelm von Raumer und Georg Heinrich Pertz nach und nach auf fehlende Stücke aufmerksam gemacht hatten, entschloss sich Jacques-Paul Migne noch im Jahr 1854 zu einem Nachdruck. Von der benediktinischen Vorlage war auch Philipp Jaffé beeinflusst, als er 1864 ein verbessertes, jedoch immer noch an die Person von Abt Wibald gebundenes und chronologisch geordnetes Briefbuch zusammenstellte. Zur Quellenkritik kehrte erst Heinz Zatschek wieder zurück, der bemerkte, dass das Briefbuch nicht durch Abschrift einer zufällig zusammengetragenen Korrespondenz entstanden, sondern nach bestimmten Grundsätzen angeordnet war. Die hoffnungsvollen Vorarbeiten zu einer Neuausgabe, die zum Jahr 1929 eine umfangreiche Studie [1], eine vollständige Transkription des Textes und den Entwurf eines Apparates mit Verweisen auf biblische Anleihen und Zitate der Klassiker enthielten, wichen leider bald anderen, "aktuell dringenderen Aufgaben", und nach dem Krieg wurde Heinz Zatschek bereits von anderweitigen Sorgen geplagt. [2] Dem halb vergessenen Projekt nahm sich daraufhin der englische Mediävist Timothy Reuter an, der bis zu seinem plötzlichen Tode im Jahr 2002 eine Kollation der Abschriften durchgeführt, die ganze Sammlung mit einem vorläufigen Kommentar versehen und die Struktur der Einleitung mit wertvollen Anmerkungen zur Schreibproduktion der Klöster Stablo und Corvey angereichert hatte. Damit brachte er die Editionsarbeit unspektakulär bis zu einem Punkt, der eine baldige Veröffentlichung versprach. Nun wurden durch die lobenswerten Anstrengungen von Martina Hartmann die langen Mühen von acht Dekaden zu einem gelungenen Ende gebracht. Und das Ergebnis?
Wibalds Briefbuch hat im Raum des Reiches nicht viele vergleichbare Pendants, aber auch sein Schöpfer war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die von Geburt an mit der Abtei Stablo verbunden war. Sein Vater gehörte der Klosterministerialität an, und Wibald tat sich innerhalb der Klostermauern derart hervor, dass sich der berühmte Gelehrte Rupert von Deutz in Lüttich seiner annahm. Im Jahr 1117 legte er den Ordenseid der Benediktiner ab und ging nach einem kurzen Aufenthalt in Waulsort bei Namur nach Stablo. Das ruhige Leben im Abseits endete im Herbst 1130, als er den Abtsstab empfing. Damals wurde er bereits zu den führenden Akteuren des Reichsgeschehens gezählt, deren Urteil auch der römisch-deutsche König Lothar III. (1125-1137) schätzte. Wibald erhielt sogar eine Einladung für die Romfahrt und wurde gemäß Lothars Wunsch als Abt des Klosters Montecassino eingesetzt. Nach dem Rückzug der kaiserlichen Truppen legte er das ihm übertragene Amt zwar nieder, blieb aber aufgrund seiner Erfahrungen auch am Hofe von Lothars Nachfolger Konrad III. (1138-1152) ein willkommener Gast. Dass er sich dort eines nicht alltäglichen Vertrauens erfreute, belegen die Ereignisse im Jahr 1146: Konrad gewann Wibald dafür, die Abtswürde im reformbedürftigen Kloster Corvey zu übernehmen, und übertrug ihm vor einem Kreuzzug in das Heilige Land außerdem die Vormundschaft für den Thronfolger. Unter der Herrschaft Friedrich Barbarossas war Wibald politisch weniger gefordert, wenngleich die höfischen Pflichten ihn in den Jahren 1155 und 1157 zweimal nach Byzanz führten. Auf der zweiten dieser Reisen starb er im mazedonischen Manastir. Seine Gebeine wurden jedoch auf direkte Anweisung des Kaisers in Wibalds Mutterkloster Stablo überführt.
Schon Heinz Zatschek wies darauf hin, dass die Briefabschriften durchlaufend angefertigt worden waren und das Briefbuch zwischen den Jahren 1147 und 1157 entstanden war. Diese wohlbegründeten Beobachtungen wurden von Timothy Reuter weiterentwickelt, indem er das Briefbuch als eine Art Hilfsmittel bezeichnete, das die Verwaltung der zwei entfernt voneinander liegenden Klöster erleichtern sollte. Wibald achtete überdies auf eine sorgfältige Auflistung der Freiheiten und Besitzansprüche. Das geschah nicht ohne eine gewisse Portion Eitelkeit, denn er verleibte dem Briefbuch auch Korrespondenz ein, die hoher Literatur nahekam. Das belegt nicht nur die Bildung des Schreibers, sondern auch dessen freundschaftliche Beziehungen zu bedeutenden Persönlichkeiten [3], und gerade diese Auswahl drückte dem Briefbuch den Stempel privater Erinnerungen (memoria) auf. Zugleich erklärt dieses Vorgehen Wibalds, warum sich sein Briefbuch nicht nach der zeitlichen Aufeinanderfolge richtet und warum darin so viele ausgewählte Schriftstücke auftauchen.
Das Briefbuch des Abtes Wibald enthält 451 Posten, von denen die meisten jedoch einer Datierungsformel entbehren, und auch die Personennamen sind nicht selten nur in Form von Initialen wiedergegeben. Beides determinierte Richtung und Charakter der ersten Editionsvorbereitungen. Über deren Umfang und Kompliziertheit geben sowohl die gut aufgebaute Einleitung mit Itinerar (XIII-XX) als auch ein übersichtliches Regestenwerk (XCI-CXLV) und vor allem das beachtliche Quellen- und Literaturverzeichnis (CXLVII-CLXXV) Auskunft.
Der Umfang des Briefbuches machte ferner eine Unterteilung des Materials in drei Bände erforderlich (1-323, Nr. 1-150; 325-732; Nr. 151-350; 733-932; Nr. 351-451). Elektronischen Zugriff auf den Editionstext ermöglicht dankenswerterweise nach wie vor die bereits 2009 online zur Verfügung gestellte Vorabedition (http://www.mgh.de/datenbanken/wibald-von-stablo/, Stand 12.8.2013). Die letzten Seiten der Edition (937-1034) füllen dann verschiedene Konkordanzen, ein Verzeichnis der Papstbriefe, eine jeweils gleich konzipierte Aufzählung der Schriftstücke der römisch-deutschen Könige und selbstverständlich Register, welche die Edition zu einem benutzerfreundlichen Handbuch erheben.
Vergessen wir aber auch nicht die Sammlung der von Martina Hartmann in der Editionsreihe der MGH Studien und Texte veröffentlichten Einzelstudien, die Wibalds Briefbuch in den breiteren Kontext der schriftlichen Kommunikation des 12. Jahrhunderts setzte und somit als loser Bestandteil der Edition verstanden werden könnte. Zweifellos gilt das für diejenigen Teile, in denen solche Schriftstücke zunächst eine kritische (1-27) und schließlich auch eine editorische (29-95) Aufmerksamkeit erlangten, die entweder vor Anlage des Briefbuches entstanden waren oder keine Aufnahme in das Briefbuch fanden, gegebenenfalls heute als verloren gegangen angesehen werden müssen. Mit einer Sorgfalt, die als buchstäblich beispielhaft bezeichnet werden darf, wurden damit zwei Briefgruppen zugänglich gemacht. Die erste, sieben Stücke umfassende, gibt sowohl Auskunft über Wibalds enge Beziehung zu seinen ehemaligen Ordensbrüdern in Waulsort als auch über die Sorgen, die ihn nach der Flucht aus dem Kloster Montecassino geplagt hatten ("Wibaldbriefe vor Entstehung des Briefbuches", 31-44). Die zweite, sechsgliedrige Gruppe dokumentiert Schwierigkeiten, mit denen Wibald vor und nach der Übernahme des Klosters Corvey konfrontiert wurde ("Epistolae vagantes", 45-56). Nur der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass Hartmann durch eine sorgfältige Analyse nachweisen konnte, dass Wibald mindestens 100 weitere Briefe empfangen oder verschickt haben muss ("Litterae deperditae", 57-95). Zusammen mit den 451 Posten des Briefbuches unterstreicht diese Zahl den Umfang der Schriftkultur um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Auf ähnliche Weise können auch die restlichen zwei Kapitel beurteilt werden, die allgemeiner gehalten sind. Hierin werden einerseits Wibalds Brieftechnik, die Themenvielfalt der Briefe sowie die Rolle der Boten unter die Lupe genommen (97-107), andererseits der Charakter und die Bedeutung der Korrespondenz unter der Herrschaft von Konrad III. und Friedrich Barbarossa bis 1160 (109-125). Anerkennende Erwähnung verdient auch ein als Anhang gebotenes Verzeichnis der in die Gesta Friderici imperatoris inserierten Schriftstücke (127-131), desgleichen die beiden hilfreichen Register zum Schluss (135-142).
Die neue - tatsächlich jedoch erste - komplette Ausgabe von Wibalds Briefbuch kann mit gleich vierfachem Nutzen verwendet werden. Über ihren Seiten kann man über die nicht leichten Jahrzehnte des Benediktinerordens reflektieren, der mit der schwindenden Gunst der Mächtigen rang, deren Aufmerksamkeit sich den damals in Mode gekommenen und beliebten Zisterziensern sowie Prämonstratensern zuwandte. Anhand von Wibalds Rolle als Retter Corveys können wir diesen Kampf fast aus der ersten Reihe beobachten. So gelangen wir zu einer Persönlichkeit, die zu den brillanten Figuren ihrer Zeit gehörte, und man kann sich kaum eine bessere Insiderquelle vorstellen, als das von ihm angelegte Briefbuch. In dritter Hinsicht wird das Briefbuch zu einem Hilfsmittel, das es uns erlaubt, einen Einblick in die Welt der Reichsdiplomatie und in die Politik unter der Herrschaft der ersten Staufer zu bekommen. Last but not least ist Wibalds Briefbuch eine würdige Huldigung an die undankbaren und bisweilen leider auch gering geschätzten kritischen Editionsarbeiten, ohne welche die Auslegung der Vergangenheit bei leerem Gerede stecken zu bleiben drohte.
Anmerkungen:
[1] Heinz Zatschek: Wibald von Stablo. Studien zur Geschichte der Reichskanzlei und der Reichspolitik unter den älteren Staufern, in: MIÖG Ergänzungsband 10 (1928), 237-495.
[2] Karel Hruza: Heinz Zatschek (1901-1965). "Radikales Ordnungsdenken" und "gründliche, zielgestreute Forschungsarbeit", in: Österreichische Historiker 1900-1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, hg. von Karel Hruza, Wien / Köln / Weimar 2008, 677-792.
[3] Timothy Reuter: Gedenküberlieferung und -praxis im Briefbuch Wibalds von Stablo, in: Der Liber Vitae der Abtei Corvey. Studien zur Corveyer Gedenküberlieferung und -praxis und zur Erschließung des Liber Vitae (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. Reihe 40, 2, 1, 2), hg. von Karl Schmid / Joachim Wollasch, Wiesbaden 1989, 161-177.
Martin Wihoda