Manfred Güllner: Die Grünen. Höhenflug oder Absturz?, Freiburg: Herder 2012, 180 S., ISBN 978-3-451-30674-7, EUR 16,99
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Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wäre das, was man als den ideologischen Kern der Partei "Die Grünen" bezeichnen kann, kaum als exotisch wahrgenommen worden, denn damals war ein beträchtlicher Teil der europäischen Intellektuellen davon überzeugt, dass das Ende der Welt nah und der Grund für die heraufziehende Apokalypse in der Sündhaftigkeit der Menschheit zu suchen sei. [1] Auch die Denkfigur des Sündenfalls, die heute noch einen Angelpunkt der christlichen Theologie bildet, findet sich im grünen Denken wieder: Hier ist es allerdings bevorzugt die Industrialisierung, die als Abkehr von einem idealisierten Naturzustand und als Weg in die menschengemachte Zerstörung des Blauen Planeten gedeutet wird. [2] Ähnlich wie bei den mittelalterlichen Nonnen und Mönchen, die sich nicht nur mit Gebeten und sexueller Enthaltsamkeit gegen das Weltende stemmten, gibt es auch im grünen Milieu zahlreiche Menschen, die ihren Konsum- und Diätgewohnheiten eine besondere, gleichsam heilsgeschichtliche Bedeutung zumessen.
Die Bundesrepublik Deutschland verdankt ihren Wohlstand dem Export von Hochtechnologie, deren Produktion eine entsprechend dichte Infrastruktur erfordert. Gleichzeitig ist Deutschland aber ein Land mit einer starken grünen Partei, deren Einfluss auf die Gesellschaft seit Jahren ihren prozentualen Anteil unter den Wahlberechtigten beträchtlich übersteigt. Der Gegensatz zwischen einer modernen Industriegesellschaft und einer im Kern vormodernen politisch-religiösen Sammlungsbewegung wie den Grünen sollte eigentlich seinen Austrag in politischen Spannungsverhältnissen und heftigen Debatten finden. Wie Manfred Güllner, der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts forsa, herausarbeitet, ist dies aber eher nicht der Fall. Statt die Auseinandersetzung mit den Grünen zu suchen, so Güllner, hätten die anderen Parteien deren politische Inhalte übernommen und so letztlich einen Prozess der Selbstschwächung und gleichzeitigen Aufwertung des politischen Gegners vollzogen. Güllner sieht in dieser Entwicklung eine Gefahr für die zweite deutsche Demokratie, da die Wähler der Alt-Parteien, in ihren Interessen von diesen nicht mehr ausreichend repräsentiert, zunehmend den Wahlurnen fernbleiben würden. Güllner belegt, dass die Zuwächse der Grünen vor allem auf das Phänomen der massenhaften Stimmenthaltung zurückzuführen sind. Während der grüne Stimmanteil bezogen auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten relativ konstant geblieben ist, vergrößerte sich der Anteil dieses Wählerblocks unter den überhaupt noch abgegebenen Stimmen.
Die Demokratie, wie Güllner sie sieht, ist ein System, das den friedlichen Austrag von Interessengegensätzen ermöglicht. Tatsächlich bringt die starke Ausdifferenzierung von modernen Gesellschaften eine Vielzahl von sozialen Subsystemen mit sehr unterschiedlichen Lebenswelten hervor, die weder unter ein einheitliches Wertesystem zu bringen sind, noch von einer einzigen Beobachtungsposition aus hinlänglich wahrgenommen werden können. Ausgehend von dieser Prämisse fragt Güllner nach der Basis der Grünen in der deutschen Bevölkerung, die er aufgrund von demoskopischen Erhebungen, der Hauptquelle des Buches, in einem besserverdienenden, zumeist im öffentlichen Dienst beschäftigten Bildungsbürgertum verorten kann. Diese, marxistisch gesprochen, Klassenbasis der Grünen ist naturgemäß auch in den Medien überrepräsentiert, was sich in einem empirisch nachweisbaren Überhang von grünen und linken Einstellungen im Journalismus niederschlägt. Hinzu kommt, dass in den 1970er Jahren genau die Milieus massiv in die SPD einströmten, die im Folgejahrzehnt den Aufstieg der Grünen trugen. Soziologisch betrachtet, wurde die ehemalige Facharbeiterpartei damit zum schichtenspezifischen Schwesterschiff ihrer jüngeren Konkurrenz, die Industriearbeiterschaft dagegen zur CDU oder in die politische Heimatlosigkeit abgedrängt.
Die starke Bereitschaft des grünen Bildungsbürgertums, andere Lebenswelten und Einstellungen zu stigmatisieren und auszugrenzen, beschreibt Güllner überzeugend, wenn auch eher auf anekdotischer Basis. Gerade die Debatte um die sogenannte Klimakatastrophe liefert aber viele Beispiele dafür, wie diese Ausgrenzungsmechanismen in den politischen Raum hineinwirken, bis hin zu der Forderung, die "Klima-Leugnung" zum Straftatbestand zu erheben. Das in vielen Medien vorherrschende System der Ausgrenzung abweichender Meinungen und der permanenten Selbstbestätigung grüner Zitierkartelle vermag Güllner aber nur zu skizzieren; hier wären tatsächlich weitere empirische Untersuchungen dringend erforderlich, insbesondere auch zur Rolle des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", das spätestens seit den 1980er Jahren mit apokalyptischen Zukunftsentwürfen die Stimmung im Lande prägt.
Ähnlich wie dies Götz Aly für die 68er-Bewegung getan hat [3], aus der die Grünen Ende der 1970er Jahre hervorgingen, weist Güllner auf die mentalen Ähnlichkeiten zwischen den Grünen und jenem Teil des Bildungsbürgertums hin, der in den 1930er Jahren der NSDAP zuströmte und zum katastrophalen Ende der ersten deutschen Demokratie beitrug. Güllner sieht bei beiden Gruppen eine "Revolte gegen die Moderne". Diese Fixierung auf den Nationalsozialismus verstellt jedoch den Blick auf die Verwurzelung der Grünen in der christlichen Eschatologie, die auch ein Grund für ihre feste Verankerung im Milieu der Evangelischen Kirchen sein dürfte. Darüber hinaus tendiert der Demoskop Güllner dazu, die Umweltprobleme, die in den 1970er Jahren in das Bewusstsein vieler Menschen traten und deren Wahrnehmung durch den in der Bundesrepublik vorherrschenden Beton-Brutalismus enorm forciert wurde, mit dem Hinweis auf Umfrageergebnisse kleinzuschreiben. Als eine Partei mit besonderem Umweltbezug haben die Grünen sicherlich ihre Berechtigung, ebenso wie andere spezialisierte Interessenvertretungen.
Das eigentliche Problem der Grünen liegt, da ist Güllner wiederum zuzustimmen, in der mangelnden Bereitschaft der anderen Parteien, Alternativen zu den grünen Weltbildern und Lösungsansätzen energisch zu vertreten. Für die daraus resultierenden Fehlentwicklungen verweist Güllner vor allem auf die Kommunalpolitik, wo sich die nicht mehr in ihren Interessen repräsentierten Wähler in besonders starkem Maße von den Wahlurnen verabschiedet haben. Auf die Frage, warum die anderen Parteien so wenig Bereitschaft zur Konfrontation gezeigt haben, vermag Güllner keine überzeugende Antwort zu geben. Diese Frage ist jedoch eine Schlüsselfrage zum Verständnis der Mentalitätsentwicklung in der Bundesrepublik.
Nach Ansicht des Rezensenten dürften für das Verhalten der anderen Parteien zwei Faktoren ausschlaggebend sein, die in den Sozialwissenschaften viel zu wenig Beachtung finden: Bis zur Überwindung der Teilung war die alte Bundesrepublik eine stark traumatisierte Nachkriegsgesellschaft, die sich in einem kalten Bürgerkrieg mit dem SED-Staat und seinen westdeutschen Sympathisanten befand. Mit dem Aufbruch von 1968, der in den 1970er Jahren immer weitere Kreise zog und sich Ende des Jahrzehnts in den Grünen parteipolitisch kanalisierte, bestand die reale Möglichkeit der Entfremdung der Jugend von der zweiten deutschen Demokratie in einem solchen Maße, dass deren Bestand unter den Bedingungen der Blockkonfrontationen nicht mehr gesichert erschien. Die anderen Parteien betrieben daher richtigerweise eine im Wesentlichen integrative Politik gegenüber der aufbegehrenden Jugend. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist diese Notwendigkeit aber entfallen. Im Interesse einer lebendigen Demokratie ist es nun vielmehr notwendig, wieder mehr Konflikte zu wagen, die grünen Weltbilder zu dekonstruieren und den vorherrschenden medialen Diskurs in Frage zu stellen. Denn, da ist Güllner zuzustimmen, auch die zweite deutsche Demokratie kann scheitern.
Anmerkungen:
[1] Zur christlichen Apokalyptik und Schuldkultur vgl. Jean Delumeau: Sin and Fear. The Emergence of a Western Guilt Culture 13th-18th Centuries, New York 1990.
[2] Zur grünen Apokalyptik vgl. Andrei S. Markovits / Philip S. Gorski: The German Left. Red, Green and Beyond, Cambridge 1993, S. 125-141.
[3] Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008.
Michael Ploetz