Cornelius Hasselblatt: Estnische Literatur in deutscher Übersetzung. Eine Rezeptionsgeschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Wiesbaden: Harrassowitz 2011, 476 S., ISBN 978-3-447-06586-3, EUR 78,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Wahrnehmung der estnischen Literatur im deutschsprachigen Raum ist untrennbar mit dem Namen Cornelius Hasselblatt verbunden. Nach der estnischen Literaturgeschichte von 2006 [1] ist nun mit der Rezeptionsgeschichte der estnischen Literatur in deutscher Sprache ein weiterer monografischer Beitrag Hasselblatts erschienen, der auf der bereits 2004 publizierten gleichnamigen Bibliografie der deutschen Primär- und Sekundärliteratur zur estnischen Dichtung basiert. [2]
Entsprechend kompetent und materialreich gestaltet sich die Darstellung in der nun erschienenen Rezeptionsgeschichte, die nicht mit dem Rezeptionsbegriff der Rezeptionsästhetik arbeitet, sondern vielmehr literatursoziologisch "die institutionelle Betrachtung von Literatur" in den Blick nimmt (11). So werden neben Übersetzungen und Anthologien estnischer Texte und deren Rezensionen deutsche Diskussionsbeiträge zum Estnischen sowie Bildbände und Reiseführer hinzugezogen.
Die deutsche Rezeption der estnischen Literatur stellt dabei insofern einen Sonderfall dar, als das Deutsche lange Zeit Sprache der Oberschicht und der Wissenschaft in Estland und im estnischen Teil des historischen Livland war und somit nicht jede deutschsprachige Beschäftigung mit Estland als Rezeption im eigentlichen Sinne zu bewerten ist. Um diesem Phänomen gerecht zu werden, unterscheidet Hasselblatt zwischen drei Formen von Rezeption: erstens der Pseudorezeption, die dann vorliegt, wenn von estnischer Seite der Versuch einer Verbreitung ihres Schrifttums auf Deutsch unternommen wird, zweitens der Binnenrezeption, also der Wahrnehmung estnischer Literatur in den deutschen Kreisen in Estland, sowie drittens der "echten" Rezeption, mit der die Kenntnisnahme estnischer Dichtung und Kultur im deutschsprachigen Ausland gemeint ist.
Insgesamt liegt der Schwerpunkt der chronologisch verfahrenden Darstellung klar auf dem 20. Jahrhundert, was der Materiallage geschuldet ist. Insofern entfallen nur knapp 40 Seiten auf die Rezeption der estnischen Literatur bis zum späten 19. Jahrhundert, die vor allem unter dem Stichwort des Exotischen erfolgt. In diesem Zeichen steht auch die Wahrnehmung des estnischen Nationalepos Kalevipoeg und der Märchen und Sagen Friedrich Reinhold Kreutzwalds, dem der Verfasser zu Recht ein eigenes Kapitel widmet, wie das bis in die jüngste Vergangenheit bestehende Interesse am Kalevipoeg und an den Märchenstoffen belegt. Nachdem sich zwischen 1880 und 1930 starke Tendenzen der Pseudo- und Binnenrezeption zeigen, setzt die eigentliche Rezeption der estnischen Literatur im deutschsprachigen Raum in den 1930er-Jahren ein; dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich in diesem Zeitraum zahlreiche estnische Autoren in Berlin aufgehalten haben.
Als aufschlussreich erweist sich ebenso die Darstellung der unterschiedlichen Rezeptionswege während der deutschen Teilung nach 1945. Während in der DDR die estnische vornehmlich als Teil der sowjetischen Literatur wahrgenommen worden ist, stand in der Bundesrepublik die auf der Ostseite ignorierte Exilliteratur im Vordergrund. Unabhängig von den politischen Differenzen bestand auf beiden Seiten allerdings gleichermaßen ein durchgängiges Interesse an estnischen Märchen und Sagen, wie das Kuriosum der Kalevipoeg-Bearbeitung in der Fantasy-Roman-Reihe des Goldmann-Verlags in den 1980er-Jahren anschaulich macht.
Hat bis zu diesem Zeitpunkt vor allem die Exotisierung der estnischen Literatur das Feld dominiert, lassen sich am Ende des 20. Jahrhunderts klare Tendenzen einer "normalen" Rezeption erkennen, indem mit Jaan Kross, aber auch mit anderen estnischen Autoren, verschiedenen Kolloquien, Lesefesten und Zeitschriften eine vom Land unabhängige Kenntnisnahme der Texte einsetzt, die nun auf breiter Basis auch ein Publikum ohne estnophilen Hintergrund erreicht. Nach diesem Boom tritt zu Beginn des 21. Jahrunderts laut Hasselblatt wieder "Ernüchterung" ein, wie die Überschrift des letzten Kapitels lautet. Dies trifft allerdings nicht auf die Berücksichtigung der estnischen Literatur in der Forschung zu, wo Hasselblatt eher eine "Normalisierung" feststellt (424). Das Buch wird schließlich abgerundet von einem chronologischen Verzeichnis der deutschen Monografien zu Estland, das sich natürlich nicht mit der separat publizierten Bibliografie Hasselblatts messen kann, dem Leser aber eine hilfreiche Ergänzung der Ausführungen im Haupttext bietet.
Wie der Verfasser selbst in der Einleitung angibt, ist sein eigenes Wirken ebenfalls als Beitrag zu einer Normalisierung der deutschen Estland-Rezeption zu verstehen. Von daher verwundert es nicht, dass der Verfasser an vielen Stellen auf Fehler der behandelten Publikationen und Übersetzungen aufmerksam macht. Damit ist freilich ein Aspekt berührt, der wohl kaum allein die estnische Literatur betreffen dürfte, was die Aussagekraft der mitunter auch allzu detaillierten Ausführungen zu einzelnen Übersetzungspassagen freilich einschränkt. Als problematisch erweist sich das Normalisierungsbestreben von Hasselblatts Rezeptionsgeschichte jedoch dort, wo es die wissenschaftliche Objektivität beeinträchtigt. So heißt es etwa über eine Rezension des frühen 20. Jahrhunderts abwertend, hier zolle "ein deutscher Schriftsteller dem Affen, der gerade vom Baum heruntergekommen ist und das Denken lernt, Lob" (128).
Zudem irritiert, wenn Hasselblatt schließlich die von ihm selbst verfasste estnische Literaturgeschichte als "Rezeptionsakt par excellence" wertet (427). Bei aller terminologischen Klärung zeigt sich doch hier, dass einige Fragen, die den Rezeptionsbegriff betreffen, vom Buch nicht beantwortet werden. Letztlich lässt sich allein aus dem Vorliegen bestimmter Bücher und den überprüften Bibliotheksbeständen noch keine wirkliche Auseinandersetzung mit den Werken ableiten. Rezensionen haben hier einen anderen Status, werden aber von Hasselblatt nur herangezogen, um die Aufnahme einzelner Texte nachzuzeichnen. Bei den in der DDR erschienenen Kritiken kommt erschwerend hinzu, dass diese von der Zensur gesteuert sind und kein öffentliches Meinungsbild jenseits der offiziellen Sichtweise wiedergeben - ein Umstand, der vom Verfasser an keiner Stelle erwähnt wird. Generell hätte sich auch eine stärkere Trennung zwischen wissenschaftlicher und öffentlicher, also journalistischer Wahrnehmung angeboten, da hier ganz unterschiedliche (beziehungsweise unterschiedlich große) Lesergruppen einander gegenüberstehen, die sich nicht notwendigerweise gegenseitig zur Kenntnis nehmen.
Diese Kritikpunkte trüben den positiven Eindruck der Lektüre indes nur wenig. Angesichts der erbrachten Leistung kann kein Zweifel daran bestehen, dass Hasselblatt mit seiner deutschen Rezeptionsgeschichte erneut ein Standardwerk zur estnischen Literatur vorgelegt hat.
Anmerkungen:
[1] Cornelius Hasselblatt: Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin / New York 2006. Rezensiert von Gert von Pistohlkors in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 56 (2007), 621-624.
[2] Cornelius Hasselblatt: Estnische Literatur in deutscher Sprache 1784-2003. Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur, Bremen 2004.
Kristin Eichhorn