Bridget Alsdorf: Fellow Men . Fantin-Latour and the Problem of the Group in Nineteenth Century French Painting, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2013, XIV + 333 S., 42 Farbabb., ISBN 978-0-691-15367-4, USD 45,00
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Im Mittelpunkt des hier angezeigten Buches stehen Fantin-Latours Gruppenporträts, daneben untersucht die Autorin auch Werke anderer französischer Maler: Courbet, Manet, Degas, Bazille, Renoir. Ziel ihrer Arbeit ist zu zeigen, wie das Bedürfnis, Gruppen - also Verbände oder Bruderschaften anstelle von Ateliers im alten, akademischen Sinne - zu bilden, das französische Kunstleben im 19. Jahrhundert beherrscht und zum Aufkommen der frühen Avantgarde in der französischen Malerei bedeutend beigetragen habe. Damit wolle sie sich sowohl vom hartnäckigen Mythos distanzieren, der Modernismus sei aus einer individualistischen Revolte hervorgegangen, als auch von neueren Modellen, die seine Wurzel in den Institutionen und der Sozialgeschichte zu finden glauben (4) - eine Zusammenfassung der bisherigen Forschung, die, wenn auch später (8-9) etwas detaillierter dargelegt wird, dennoch zu knapp und sehr fraglich erscheint.
Dieser Drang zum Kollektiven stünde in einer stetigen Spannung mit dem Willen, sich als Individuum zu behaupten. Dies bringt Alsdorf als Erklärung für die Zweideutigkeit der Gruppenporträts Fantin-Latours und anderer, von ihr betrachteter Maler, die von der Kultur der Bourgeoisie nicht zu trennen und wesentlich männlich geprägt gewesen seien.
Diese soziopsychologische Haltung würde Georg Simmels Auffassung der Gesellschaft entsprechen, der Alsdorf mehrere Seiten widmet - allerdings nicht, wie man es erwarten würde, in der Einleitung, sondern am Ende des dritten Kapitels. Es ist aber fragwürdig, durch Simmels Theorie der sociability, die eine allgemeine Gültigkeit beansprucht, die Haltung besonderer, spezifischer Gruppen beleuchten zu wollen. Zwar behauptet Alsdorf, Fantin-Latour "was able to make visible [...] modern association in general, more clearly than any other painter of his time" (151), aber dazu hätte sie die Gruppenporträts aller zeitgenössischen französischen Maler in Betracht ziehen sollen (was übrigens dem Titel des Buchs entsprochen hätte), und nicht nur die eines kleinen, in sich relativ geschlossenen Kreises.
Nach einer langen Einleitung gliedert sich das Buch in fünf Kapitel. Die vier ersten sind je einem Gruppenporträt Fantin-Latours gewidmet: Hommage à Delacroix, Le Toast (vom Künstler zerstört), L'atelier des Batignolles, Le coin de table - das letzte Gruppenporträt, Autour du piano, ist nur flüchtig im "Schlusswort" besprochen. Zu jedem der ersten vier werden Werke anderer Maler vergleichend herangezogen, so zum dritten Velasquez' Meninas als angebliche Inspirationsquelle und Bazilles Atelier als Vergleich. Warum aber Manets Musique aux Tuileries und Degas' Louis-Marie Pilet und L'orchestre de l'Opéra im selben Kapitel wie Hommage à Delacroix behandelt werden, liegt nicht auf der Hand. Zwar ist jedes Kapitel mit einem Titel versehen, dieser trifft aber höchstens einen Teil seines Inhalts. So heißt das fünfte, einigen Werken Renoirs und Degas' gewidmete Kapitel "The Irregularists", eine Anspielung auf das Projekt eines Künstlerverbands, das Renoir 1884 entworfen hatte und das Alsdorf in ihrem Text nur flüchtig erwähnt. Weder kommt das Hauptthema jedes Kapitels klar ans Licht, noch ist es leicht, den roten Faden wahrzunehmen, der von einem Kapitel zum nächsten führt. So entsteht der Eindruck eines Nebeneinanders mehr oder weniger treffender Kommentare zu verschiedenen Aspekten der behandelten Werke, wobei die stetige Wiederholung der Hauptthese der Arbeit (die Spannung zwischen Kollektivismus und Individuum) das einzige verbindende Moment bildet.
Über diese sehr allgemeine und im Grunde genommen aufgeblasene Binsenwahrheit hinaus die tiefere Einheitlichkeit der von den Werken gestellten Probleme festzustellen, fällt umso schwerer, als die "Gruppen" völlig verschiedener Natur sind. Zwar bilden in dieser Hinsicht Fantin-Latours Gruppenporträts ein einheitliches Ensemble, da die in jedem Bild dargestellten Menschen durch eine gemeinsame Gesinnung verbunden waren. Man darf sich aber fragen, was Gleyres Schüler, die Mitglieder einer 1874 gegründeten Genossenschaft und die Teilnehmer an Renoirs Déjeuner des canotiers Gemeinsames haben - ist doch das letzte Bild eine erweiterte Genreszene, für die (entsprechend einer auch in der Historienmalerei üblichen Gewohnheit) Bekannte Renoirs Modell standen. Worte wie sociability erlauben der Autorin, ihr Arbeitsfeld beliebig auszudehnen.
Dagegen bleibt der Kreis der in Betracht kommenden Künstler eng. Grundbedingung einer logischen Argumentation wäre eine Rechtfertigung ihrer Auswahl. Dass sie in einer mehr oder weniger engen persönlichen Beziehung zu Fantin-Latour standen, reicht in dieser Hinsicht nicht aus. In der Einleitung schreibt Alsdorf, sie hätte ihre Zahl "for reasons of economy and depth" begrenzt (5). Was unter "depth" zu verstehen sei, bleibe dahingestellt; was "economy" angeht, ist ein derartig pragmatisches Argument aus praktischen Gründen annehmbar, hat aber keinen kunsthistorischen Wert.
Sie fügt hinzu, das Werk der von ihr ausgewählten Künstler "best reveals the problems and potentials of the modern group". Einerseits fällt sie in einen Teufelskreis, indem sie durch das Wort "best" von vornherein das voraussetzt, was zu beweisen wäre; andererseits darf man sich fragen, was diese moderne Gruppe sei, die viel größer wäre, als der enge Kreis der Auserwählten, sich aber mit der Ganzheit der zeitgenössischen Künstler anscheinend nicht decken würde.
Dass die Auserwählten zur frühen Avantgarde gehörten oder zu ihrem Aufkommen beigetragen hätten, daraus ergibt sich nicht unbedingt, dass sich ihre Gruppenporträts wesentlich von denen anderer Maler unterschieden hätten. Unter den zahlreichen Gruppenporträts französischer Künstler kommentiert Alsdorf nur Boillys Réunion d'artistes dans l'atelier d'Isabey (1798) und Horace Vernets Atelier de l'artiste (um 1820). So bedeutende, programmatische Werke wie Duclaux' Halte des artistes lyonnais à l'île Barbe (1824) oder Marie-Gabrielle Capets Scène d'atelier (Salon 1808) bleiben unerwähnt, obwohl dieses zweite Bild (eine Huldigung an Adélaïde Labille-Guiard, der Lehrerin Marie-Gabrielle Capets) dem Atelier des Batignolles am nächsten steht.
Die Gruppenporträts Fantin-Latours und verwandter Maler dokumentierten nach Alsdorfs These neue Formen der sociability, die sich als mit der Avantgarde wesensverbundene Erscheinungen von den traditionellen Institutionen, Akademien und Ateliers grundsätzlich absetzten. Man sollte jedoch nach dem Status derjenigen Kreise fragen, die mit dem Akademiewesen nichts zu tun hatten, aber schwerlich einer Avantgarde zugerechnet werden könnten, wie das 1846 von den "Neugriechen" Gérôme, Hamon, Boulanger, u.a., gebildete "Phalanstère". Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die Geschichte der Kunst im 19. Jahrhundert habe für Alsdorf eine Selbstverständigkeit, die in fine auf dem Verkennen bzw. Ausklammern von all dem beruht, was nicht als Avantgarde eingestuft werden könnte und in der in der Kunstgeschichtsschreibung als solche bezeichnet wurde - eine Geschichte der Kunst im 19. Jahrhundert also, die schon längst revisionsdürftig war und revidiert wurde.
Es stellt sich hier die Frage nach dem Wesen der Avantgarde. Das Wort wird zwar stets von Alsdorf verwendet, aber nie definiert, sei es soziologisch, psychologisch oder ästhetisch. Scheinbar hat sie selber eine bestimmte, feste Vorstellung von seinem Wesen; was der Leser bruchstückhaft darüber erfährt, führt aber zu keinem kohärenten Bild. Mehr noch: man darf sich fragen, was Alsdorf darunter versteht, wenn sie schreibt, Baudelaire würde seine Idee der Avantgarde aus der Verbindung zwischen Individualiät und Kollektivität ziehen (3), wenn der Dichter bekanntlich das Wort "avant-garde" nur einmal (in Mon cœur mis à nu) verwendet hat - und zwar mit tiefster Verachtung!
Soweit nachvollziehbar, versteht Alsdorf unter der frühen Avantgarde die Kunst der Impressionisten. Dass mit dem Atelier des Batignolles Fantin-Latour als ihr Prophet betrachtet wurde, bewegte zu seinen Lebzeiten sogar die staatliche Kunstverwaltung dazu, das Bild zu kaufen. Dennoch äußerte er sich negativ über die Stilentwicklung Monets, Sisleys, Pissarros und sogar Manets unter Monets Einfluss nach 1870, und zwar mit denselben vernichtenden Worten, wie die konservativsten Kunstkritiker der Zeit. Dagegen schätzte er die Malerei Lhermittes, mit dem er befreundet war. Schwerlich könnte man ihn also als avantgardistischen Maler oder mindestens als Vorreiter der Avantgarde gelten lassen (was an seiner Größe nichts ändert). Das tut aber Alsdorf (203), weil die das ganze Buch beherrschende Opposition zwischen Kollektivismus und Individuum allgemein genug ist, um jegliche beliebige Interpretation zu ermöglichen. So lehnt sie den oft von der zeitgenössischen Kunstkritik geäußerten Vorwurf ab, die in Fantin-Latours Gruppenporträts Dargestellten seien nur beziehungslos aneinander gereihte Porträtstudien, mit dem Argument, gerade "the lack of coordination [...] serves to convey the inviolability of the individual within the group" (142)!
Überhaupt sind unbegründete, willkürliche Äußerungen im Buch nicht selten, da die Autorin der Subjektivität freie Bahn lässt. Infolgedessen wird oft bloß behauptet, wo Argumente gewünscht wären. Dass dabei Ungenauigkeiten und sogar Widersprüche auftauchen, wundert nicht, mindert aber den Erkenntniswert der verschiedenen Werkbesprechungen wesentlich. Zusammenfassend darf man zugestehen, das die ganze Arbeit zwar über Alsdorfs Ideen informiert und eine leider sehr verbreitete Auffassung der Kunstgeschichtsschreibung beispielhaft dokumentiert, trotz hohen Anspruchs aber kaum dazu beiträgt, Fantin-Latours Kunst und die Gruppenporträts im 19. Jahrhundert besser zu verstehen.
Pierre Vaisse