Johannes Dillinger: Kinder im Hexenprozess. Magie und Kindheit in der Frühen Neuzeit, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, 264 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-10312-1, EUR 24,90
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Die Zeit der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen war bereits vorüber, als Francisco Goya kurz vor der Jahrhundertwende 1798 seine Vorstellung eines Hexensabbats malte: Eine Frau überreicht einem in der Bildmitte sitzenden Ziegenbock auf Augenhöhe ein lebendes, wohlgenährtes Kind. Darunter sitzt eine düstere Gestalt, die dem Ziegenbock ein ausgezehrtes Kind darbietet. Links auf dem Boden liegt ein schon fast skelettiertes Kind, im Hintergrund darüber sieht man an einer Art Lanze mehrere aufgehängte Kinder.
Kinder gelten als die "klassischen" Opfer von Hexenprozessen, ihre Leichen wurden gegessen oder zur Herstellung von magischen Mitteln wie Flugsalben verwendet. Somit erscheint es passend, dass Johannes Dillinger das Gemälde Goyas als Titelbild für sein neues Buch über Kinder im Hexenprozess gewählt hat. Konzentriert hat er sich jedoch auf eine "andere" Dimension als die des Opfers. Kinder galten in der älteren Forschung (z.B. Weber) als "Täter", als diejenigen, die regelrechte Prozesslawinen in Gang setzten und in der Folge - wenn sie auch in der Regel bis zum Alter von 14 Jahren nicht die Todesstrafe zu befürchten hatten - wieder zu Opfern wurden.
Da das Verständnis von Kindheit keine biologische Gegebenheit, sondern ein kulturelles Konstrukt ist, muss man zunächst Klarheit über die verschiedenen Stufen von Kindheit in der Vormoderne schaffen. Dillinger wendet sich deshalb ausgehend von heutigen Konflikten und Diskussionen über Kinder als Opfer und Täter ausführlich diesen verschiedenen Konzepten zu. Fraglich bleibt, ob man hier nicht auch über das Konzept von "Jugend" hätte nachdenken sollen. Sowohl in Bezug auf gerichtsrelevante Aussagen als auch hinsichtlich des Strafmaßes dürfte ein sechzehnjähriges Kind sicher anders behandelt worden sein als ein elf- oder zwölfjähriges Kind. Die Grenze nach oben wird zudem dadurch diffus, dass die Prozesse ja häufig eine jahrelange Geschichte entwickelten, also Kinderhexen zu in Hexereifälle verwickelten Jugendlichen und Erwachsenen mutieren konnten. Es bleiben also noch Forschungsprobleme zu lösen.
Dillinger kommt zu dem wichtigen Ergebnis, dass es Erwachsene waren, die Kinder zu Kinderhexen machten. Dazu stellt er drei unterschiedliche Arten von Kommunikation im Vorfeld der Prozesse als entscheidend heraus. Zum einen hörten Erwachsene, was sie hören wollten: Eine neutrale Beschreibung eines Ausfluges wurde so zum Hexensabbat. Zweitens wurde der spielerische Umgang mit Magie falsch interpretiert und schließlich habe es tatsächlich Kinder gegeben, die meinten, die Prozesse beeinflussen zu können.
Der zu besprechende Band ist in drei Hauptteile gegliedert: Nach der Analyse von Rahmenbedingungen im Kontext von Kindheit, Familienleben und Magie nimmt der Autor mehrere Fallstudien in den Blick, um auf dieser Basis anschließend mögliche Muster und Strukturen von Kinderhexenprozessen zu erläutern. Mit über hundert Seiten stehen die vor allem aus dem deutschen Südwesten stammenden Fallstudien im Zentrum von Dillingers Ausführungen. Deren Auswahl ist klug, repräsentiert sie doch alle denkbaren Varianten von Kinderhexenprozessen und führt gleichzeitig in die grundsätzlichen Strukturen von Hexenverfolgungen ein. Da nebenbei recht ausführlich auch Basiswissen wie etwa die Wasserprobe (177) erläutert wird, kann das Buch einem größeren Publikum durchaus als Einstieg in die allgemeine Geschichte der Hexenverfolgungen dienen: Eine skeptische Obrigkeit, Hexenverfolgung von "oben", von "unten", der Zusammenhang mit Krisen, Geisteskrankheiten, die Verfolgung von Straßenkindern und Kindermördern, das alles sind Bereiche, die erläutert werden. Einzig der Abschnitt über Schule und Kinderhexenprozesse hängt etwas in der Luft und ist vielleicht eher den populären Ideen von Zauberschulen à la Harry Potter geschuldet. Dillinger stellt hier selbst fest, dass die Idee einer imaginären dämonischen Schule für Kinderhexenprozesse kaum eine Rolle spielte (153).
In einer dichten Beschreibung erzählt er die Einzelfälle in einer angemessen sachlichen Sprache nach. Die dahinterstehenden menschlichen Schicksale der in der Mehrzahl aus armen und problematischen familiären Verhältnissen stammenden Kinder - so ein generelles Ergebnis - werden dennoch deutlich. Interessant präsentiert sich auch Dillingers These der "Pastoralisierung": Gerade bei Kindern versuchte man gegen Ende der Prozesse eher eine Bekehrung als eine Bestrafung. Sie überzeugt mehr als der Versuch einer zeitlichen Abfolge und Zuordnung von Kinderhexenprozessen vor allem am Anfang und am Ende von Verfolgungswellen als Verfolgungskatalysatoren.
Den positiven Gesamteindruck stört nur Weniges: Kleinere Flüchtigkeitsfehler - so findet sich etwa Mülleders Arbeit zu den Zauberer-Jackl-Prozessen in verschiedenen Namensvarianten von "Müller" bis "Müllerleder" (Anm. 39, 42 u. 43) - oder umständlich wirkende Übersetzungshilfen (muss man solche bei "gratias" [Latein: Danke, 189] oder bei "pictures of Evil" [Englisch: Abbilder des Bösen, 181] anfügen?). Vermisst hat die Rezensentin außerdem ein Abbildungsverzeichnis der ansonsten gut integrierten und erläuterten - wenn auch kleinen - Schwarz-Weiß-Abbildungen. Insgesamt bereichert Johannes Dillingers Band die vor allem mit Rainer Becks grandioser Studie in Schwung gekommene Forschung zur Rolle von Kindern in Hexenprozessen [1] um einen gelungenen und gut strukturierten Überblick.
Anmerkung:
[1] Rainer Beck: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Ein Hexenprozess 1715-1723, München 2011.
Karen Lambrecht