Anne Sinclair: Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine? Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg, München: Kunstmann Verlag 2013, 207 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-88897-820-3, EUR 19,95
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Paul Rosenberg, einer der renommiertesten Kunsthändler seiner Zeit, starb im Jahr 1959. Seinen Namen verbindet man mit Aufsehen erregenden Ausstellungen, mit den großen Impressionisten, mit seinem Wirken in Frankreich, England und den USA - und zugleich mit seinem Schicksal als Verfolgter der deutschen Besatzungsmacht samt ihren Verbündeten in Frankreich. Dass nun eine von seiner Enkelin verfasste erste Biografie Rosenbergs vorliegt, hängt zuvorderst mit einem Zusammenstoß zusammen, den Anne Sinclair Anfang 2010 mit den französischen Behörden hatte: Für eine lapidare Wohnsitzbescheinigung benötigt die Journalistin die Geburtsurkunden von Vater und Mutter, sie fühlt sich bei der Polizeipräfektur gemaßregelt, das Insistieren der Beamten reicht bis in die Generation ihrer Großeltern. "Das letzte Mal, als man derartige Fragen gestellt hat, ließ man die Menschen anschließend in einen Zug nach Drancy steigen" (9), entgegnet Sinclair gekränkt, sie registriert im heutigen Frankreich bekümmert ein feindseliges Klima, sieht vergessen geglaubte Diskussionen um die so genannte nationale Identität plötzlich wieder hochaktuell.
Über diesen konkreten Anlass hinaus werden weitere Motive deutlich, sich mit der Zeit- und ihrer Familiengeschichte über das Journalistische hinaus zu befassen: Die Autorin bezeichnet sich als politisch denkende Frau seit ihrem Studium am Institut de Sciences Politiques in den 1970er Jahren. 1994 sah sie ihr primär von väterlicher Seite geprägtes Selbstverständnis als Jüdin massiv erschüttert, als die vertraulichen Beziehungen Mitterands zu ehemaligen rechtsextremen Größen ans Licht kamen, wie René Bousquet, Generalsekretär der Polizei des Vichy-Regimes, oder Jean-Paul Martin, tätig für den Geheimbund La Cagoule. Sinclairs Interesse, das ursprünglich eher der Tagespolitik gewidmet gewesen war, richtete sich mehr und mehr auf die Geschehnisse der 1930er und 1940er Jahre und somit auch auf die Lebenszusammenhänge ihres Großvaters; ein Drang, der durch den Tod ihrer Mutter sowie ihr eigenes Leben in New York als wichtigem Standort Paul Rosenbergs zusätzlich verstärkt wurde: "Ich wollte verstehen, wer ihr Vater, mein Großvater, war, der als leidenschaftlicher Verfechter der neuen Malerei so große Anerkennung gefunden hatte, doch während des Zweiten Weltkriegs zum Paria wurde." (21) Am Ende ihrer Studie bekennt Sinclair, ihr habe anfangs nur eine schmale Hommage an Paul Rosenberg vorgeschwebt, ihr sei unklar gewesen, "dass es mich so weit forttragen würde" (201).
Letztlich sind 15 Kapitel von einem Umfang zwischen vier und 27 Seiten entstanden. Die Verfasserin stellt diesen einen Prolog voran, der neben den Beweggründen für ihr Schreiben knapp den Forschungsstand zur Geschichte Frankreichs unter deutscher Besatzung skizziert. Dabei konzentriert sie sich auf französische Untersuchungen, die überwiegend aus den 1990er Jahren stammen. Generell bleibt die Bibliografie recht übersichtlich. Sinclair stellt weder die ihren Großvater betreffenden Publikationen in strukturierter Weise vor noch bezieht sie sich auf den Forschungsstand zur Identität und Integration der jüdischen Bevölkerung Frankreichs vor dem Nationalsozialismus. Der entscheidende Quellenwert liegt fraglos in den bisher unveröffentlichten Passagen aus Briefen Rosenbergs sowie dessen tradierten familieninternen Aussagen. In einem kurzen Epilog deutet sie ihr persönliches 'Gefangen sein' in New York 2011 und damit die kurzfristige Festnahme ihres Ex-Mannes Dominique Strauss-Kahn an, zu dem Zeitpunkt Chef des Internationalen Währungsfonds.
Den Zugang zur Person Paul Rosenberg findet seine Biografin in dem Haus in der Rue La Boétie 21 (so auch der französische Originaltitel des Buches), wo er ab 1910 lebte, in dessen Erdgeschoss die Ausstellungen zu Braque, Renoir und vielen anderen Künstlern zu sehen waren und das ab 1940 den Sitz der Kollaborateure Pétains bildete - genauer gesagt des Instituts für das Studium der Judenfragen (IEQJ) unter Vorsitz seiner Generalsekretäre Paul Sézille (1940-42) und George Montandon (1943-44); als faktischer Leiter gilt indes Theodor Dannecker vom SD-Judenreferat in Frankreich. In diesem Abschnitt referiert Sinclair diverse Standpunkte zur 'Entarteten Kunst', greift die Kontroverse der beiden Reichsminister Goebbels und Rosenberg (verantwortlich für den immensen Kunstraub aus den besetzten Gebieten) um die Relevanz des Expressionismus auf und vermittelt auf wenigen Seiten eine Ahnung vom Ausmaß dieser Form der "Arisierung": Große Kunst wurde zu wertlosem Schund degradiert und entweder vernichtet oder zu Geld gemacht, ein Verbrechen, das 1946 in Nürnberg als "Angriff auf die Kultur" und somit "auf die Auslöschung eines ganzen Volkes" gerichtet eingeordnet wurde (33).
Sinclair wirft von diesem düsteren Abschnitt aus den Blick zurück auf die ersten Schritte ihres Großvaters im Kunstgewerbe, der als Junge von 16 Jahren in das Geschäft des Vaters einstieg und sich schnell dessen Mut zum Risiko, insbesondere das Setzen auf moderne Malerei zu eigen machte; er suchte nicht nach leicht verkäuflicher Kunst sondern nach Gemälden, die für ihn als Kenner von wirklicher Relevanz waren. Wirtschaftlich vernünftig war dies nicht immer, doch ihm lag es ihm fern, Bilder zu verkaufen, "die ich nicht mochte und die nach meiner Überzeugung in Zukunft keinen Bestand haben würden." (84) Vermochte der Urgroßvater Familie und Kunden noch mit der Farbenpracht Monets oder Cézannes zu irritieren, entwickelte Paul Rosenberg eine anhaltende Zuneigung für Pablo Picasso und sein Werk. Der Beziehung der beiden ist bezeichnenderweise das umfassendste Kapitel namens "Paul und Pic" gewidmet, auch andere Abschnitte wie "Mother and Child", benannt nach einem Portrait von Rosenbergs Frau, kreisen um das Genie. Die Leitfrage, ob das Verhältnis zwischen Künstler und Galerist ein geschäftliches war oder nicht doch "eine brüderliche Freundschaft" (107), wirkt eher halbherzig gestellt. Zweifel an der Innigkeit und gegenseitigen Verbundenheit (die faktisch beiderseits auch ökonomisch motiviert war) sind nicht erkennbar, obgleich eine Form von Ungleichgewicht durchscheint, sei es bei Picassos Biografen, die von Rosenbergs Nutzen für den Meister sprechen, sei es im Briefwechsel der beiden: Rosenberg verehrte seinen Künstler, ab 1919 direkter Nachbar in der Rue La Boétie, über 200 Briefe von ihm geben darüber Zeugnis ab - die Antworten Picassos waren deutlich spärlicher, sind zudem zum großen Teil verloren gegangen. Hier und da litt er unter der Eigenwilligkeit oder Langsamkeit des Malers, die larmoyante Frage nach den 'Harlekinen' ist sogar namengebend für die deutsche Übersetzung. Die Entscheidung, Rosenberg als zentrale Figur des Textes erst im Untertitel zu nennen, scheint ebenso unglücklich wie unfreiwillig symptomatisch für die Beschaffenheit seiner Beziehung zum ruhmreichen Künstler.
In ihre Darstellung flicht die Verfasserin zwar hier und da Hinweise zur Weltanschauung oder religiösen Haltung Paul Rosenbergs ein. Sie kennzeichnet ihn als Mann ohne tiefere Bindung zum Judentum, als bürgerlichen Linken und entschiedenen Gegner des Faschismus, und sie deutet das komplexe Verhältnis zum Vaterland an, das ihn vor dem Gang ins Exil nicht bewahren konnte oder wollte. Zugleich gesteht Sinclair nüchtern ein, dass ihr Material keine klaren politischen Bekenntnisse hergibt (in den Schreiben an Picasso etwa spielt die sie umgebende unruhige Zeitgeschichte keine Rolle). Sie attestiert ihrem Großvater im amerikanischen Exil "Ahnungslosigkeit und Naivität" (169) hinsichtlich der Umstände in Europa bzw. Frankreich, jegliche Stilisierung des Vertriebenen zum Widerständler ist ihr fremd: "Viel mehr kann ich darüber nicht sagen." (91) Auch in anderer Hinsicht wahrt die Enkelin eine angenehme Distanz zum Leben Rosenbergs, sie weiß um die kindliche Färbung vieler persönlicher Erinnerungen. Diese gleicht sie ab mit Sichtweisen von Kollegen und Journalisten, ohne für sich die Deutungshoheit zu beanspruchen: War er ein zurückhaltender, bisweilen düsterer Charakter, belastet von der Tatsache, Kunst nicht zu schaffen sondern lediglich zu vermarkten? Oder dominierten sein wacher Blick auf den Kunstbetrieb und die Tatkraft, Museen sowie Kunden in Europa und den USA für sein Angebot zu begeistern? Sinclair verteidigt ihren Großvater gegen einzelne kritische Stimmen, sie bleibt auf seiner Seite, ohne den bisweilen von sich Eingenommenen zu verherrlichen. Diese Dezenz tritt auch zutage, als sie in Briefen auf Hinweise auf Krisenmomente innerhalb seiner Ehe stößt, diese jedoch nicht verurteilt oder gar ausschlachtet: "Da stehe ich nun mit hängenden Armen, vertrauliche Briefe in der Hand, und betaste sie immer noch unschlüssig." (139)
Durch Sinclairs nicht akribisch wissenschaftlichen, eher episodenhaften Stil entsteht eine persönliche Darstellung Rosenbergs, ein lebendiges Bild von seinem Leben zwischen Kunst, Familie und Politik, das Leerstellen enthält und Deutungsspielräume lässt. Das gilt ebenfalls für die Kapitel, die das Leben in New York thematisieren, wo 1940 für den Emigranten gezwungenermaßen ein neuer Abschnitt seines beruflichen Wirkens begann und wo er bis weit über das Kriegsende hinaus aus Dankbarkeit für seine Aufnahme blieb. Sinclairs zugewandte, dabei nie unkritische Erinnerungen an ihren Großvater würdigen eine besondere Persönlichkeit im internationalen Kunstbetrieb, die fraglos Stoff für weitere Biografen bietet.
Benedikt Faber