Bruno Klein / Katja Schröck / Stefan Bürger (Hgg.): Kirche als Baustelle. Große Sakralbauten des Mittelalters, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 428 S., ISBN 978-3-412-20976-6, EUR 54,90
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Die großen Sakralbauten des Mittelalters prägen bis heute das Erscheinungsbild zahlreicher Städte. Dennoch ist immer nur das endgültige Resultat zu sehen, wohingegen die bisweilen schwierigen und langwierigen Entstehungs- und Realisierungsprozesse sowie die aufwendige Bauorganisation verborgen bleiben. Da Klöster, Städte, Bistümer sowie verschiedene Personen und Gruppen mit einem Kirchenbau ihre politische und wirtschaftliche Bedeutung dokumentieren konnten, war dies stets eine höchst anspruchsvolle Bauaufgabe. Vor allem in den hoch- und spätmittelalterlichen Städten wirkten oftmals unterschiedliche Parteien beim Bau der Kirche mit. Diese vielfältige Partizipation war nicht nur aus finanziellen Gründen oftmals notwendig, sondern ebenso auch problematisch, wenn etwa divergierende Interessen im Laufe des Bau- und Planungsprozesses berücksichtigt werden mussten. Inwiefern die Endgestalt des Kirchenbaus ein Kompromiss aller Beteiligten war, steht im Zentrum des Sammelbandes. Er umfasst in insgesamt 24 Beiträgen die Ergebnisse der Tagung "Kirche als Baustelle - Große Sakralbauten des Mittelalters", die im Rahmen des gleichnamigen Teilprojektes des Sonderforschungsbereichs 804 "Transzendenz und Gemeinsinn" an der TU Dresden vom 10. bis zum 13. November 2011 in Dresden stattfand.
Als eigentliche Einführung in die Themenstellung ist der Beitrag von Bruno Klein (11-22) zu werten. Ausgehend von der Vorstellung des früh- und hochmittelalterlichen Baumeisters, des sapiens architectus, der als Einzelperson die gesamte Planung und Realisierung zu verantworten hatte, betont Klein den Wandel seit dem 12. Jahrhundert hin zu einer stärkeren Ausdifferenzierung einzelner Tätigkeiten. Die neuen technischen Aufgaben, der damit einhergehende finanzielle, materielle und bautechnische Aufwand sowie die erstarkenden Kommunen setzten zunehmend "Individualisierungsprozesse und Vereinnahmungen von Bauwerken" (16) in Gang, so dass der öffentliche "Druck und Drang, sich an der Baustelle zu beteiligen, um die eigene Gemeinschaft zu inszenieren" (14) stieg.
Dass sich die Etablierung einzelner Stifterkreise auf das Gestaltungskonzept und Erscheinungsbild einer Kirche nachhaltig auswirken konnte, führt etwa Stefan Bürger (23-40) in seinem Beitrag über die St. Annenkirche in Annaberg vor Augen. Anders als der Titel zunächst vermuten lässt, beschränkt Bürger sich hierbei nicht auf die reine "Baustellengeschichte" der Kirche oder auf eine "schlichte Bauphasen- und Stiftungshistoriographie" (24). Vielmehr zeichnet er überzeugend das sich im Prozess seiner Entstehung wandelnde Erscheinungsbild der Kirche nach, bei der ausgehend von einer herzoglichen Patronatsstiftung zunehmend andere Stiftergruppen (Privatleute wie Bruderschaften) in den Bauprozess eingebunden wurden. Die Annenkirche wurde auf diese Weise zunehmend - trotz zunächst unterschiedlicher Protagonisten - ein Gemeinschaftswerk und städtisches Identifikationssymbol und damit ein "stabilisierendes Moment und konstitutives Moment zugleich" (24).
Inwiefern sich im Bau einer Kirche dagegen auch Machtansprüche einzelner Akteure manifestierten, veranschaulicht Henrik Karge am Beispiel der Kathedrale von Santiago de Compostela (243-259). Während in anderen Städten die Bürger der Stadt einen zunehmenden Einfluss auf den Bau der Kirche ausübten [1], war dies in Santiago de Compostela nicht der Fall. Denn auch wenn die Kathedrale immer wieder Schauplatz von Streitigkeiten zwischen Erzbischof Diego Gelmírez und den Bürgern war, erhoben sie keinerlei Ansprüche auf eine direkte Teilhabe an dem Kirchengebäude. Ferdinand II., König von León und Galicien, dagegen versuchte - nach dem langsamen Niedergang des Pontifikats von Diego Gelmírez und der schwindenden Bedeutung der Erzbischöfe insgesamt - seit den 1160er-Jahren die Kirche zunehmend für sich zu beanspruchen. Zur Demonstration seiner königlichen Ansprüche stiftete er, wie Karge ausführt, die neue Westportalanlage mit dem bekannten Pórtico de la Gloria, dessen vermeintlichem Baumeister Meister Mateo er ein lebenslanges Gehalt zusicherte, und überbot damit den bischöflichen Vorgängerbau.
Auch die anderen Beiträge des Sammelbandes behandeln auf unterschiedlichen Ebenen die Planungs- und Bauprozesse hoch- und spätmittelalterlicher Großbaustellen, wobei der Fokus auf dem Gebiet des Reichs, Frankreichs und Italiens liegt. Nur wenige Fallbeispiele widmen sich anderen Regionen Europas, wie etwa Jens Rüffer zu Westminster Abbey und Exeter Cathedral (169-181), Merlijn Hurx zu niederländischen Kirchen in Holland (182-195), Sascha Köhl zu Brabant (196-209) und Henrik Karge zu Santiago de Compostela (243-259). Ergänzt werden die weitgehend monografisch ausgerichteten Beispiele abschließend durch zwei Beiträge zum spätgotischen Werkmeisterbuch des Rodrigo Gil de Hontañón von David Wendland (339-353) und zur gebauten Wirklichkeit in Bildern des Spätmittelalters am Beispiel der von Günther Binding publizierten Baustellenbilder von Peter Bell (354-365).
Der insgesamt gelungene Sammelband überzeugt vor allem durch den Facettenreichtum, die Materialfülle und die zahlreichen Ergebnisse zu Planungs- und Bauprozessen der wohl prominentesten Sakralbauten des Mittelalters. Dennoch bietet eine derart breite Themenstellung und Herangehensweise immer auch Raum für Kritik. So stehen die einzelnen Fallbeispiele hoch- und spätmittelalterlicher Großprojekte oftmals unverbunden nebeneinander, wobei eine stärkere inhaltliche Verknüpfung einzelner Beiträge untereinander beziehungsweise eine systematische Rückführung auf die eingangs formulierten Fragestellungen an manchen Stellen wünschenswert gewesen wäre. Ein Vergleich mit kleineren Zentren oder anderen Regionen Europas hätte sich zudem als Ergänzung angeboten.
Wenngleich die Fragestellung und die methodische Herangehensweise gewiss nicht gänzlich neu sind, überzeugt der Sammelband durch die hohe Qualität der oftmals sehr anregenden Beiträge. Eine umfangreiche Literaturliste (366-414) sowie ein Orts- und Personenregister (419-428) erleichtern die Handhabung des umfangreichen Bandes und ermuntern zum Nachschlagen sowie zur weiteren Recherche. Das Buch liefert insgesamt eine ebenso profunde wie anschauliche Darstellung von Planungs- und Bauprozessen des spätmittelalterlichen Baubetriebs und ist daher eine wichtige Grundlage für weitere Forschungen.
Anmerkung:
[1] Vgl. etwa den Beitrag von Jean-Sébastien Sauvé zu Straßburg in diesem Band.
Jeannet Hommers