Michael Epkenhans / Ulrich von Hehl (Hgg.): Otto von Bismarck und die Wirtschaft (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 17), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, XIV + 247 S., ISBN 978-3-506-77714-0, EUR 29,90
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Im Zusammenhang mit den Arbeiten an der Neuen Friedrichsruher Ausgabe der Werke Otto von Bismarcks veranstaltete die Otto-von-Bismarck-Stiftung 2010 eine Tagung zur Rolle Bismarcks als Wirtschafts- und Sozialpolitiker. "Otto von Bismarck und die Wirtschaft" lautet der Titel des Tagungsbandes, den die Herausgeber Michael Epkenhans, Leiter der Abteilung Forschung im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, und Ulrich Hehl, Professor für Neue und Neueste Geschichte an der Universität Leipzig, jüngst vorgelegt haben.
Die Rolle Bismarcks als Innen- und Außenpolitiker sei kontinuierlich Thema wissenschaftlicher Studien, konstatieren die Herausgeber in ihrer Einführung (IV). In der Tat blickt die Geschichtswissenschaft hier auf eine lange Forschungstradition zurück. Die Fülle an einschlägigen Arbeiten ist kaum zu überblicken. Hingegen mangele es bisher an systematischen Untersuchungen zur Bedeutung Bismarcks als Sozial- und Wirtschaftspolitiker sowie dessen Verhältnis zu Wirtschaftsverbänden und Unternehmerkreisen. In dieser Funktion sei das Wirken Bismarcks, der sich autodidaktisch in "diese komplizierte Materie eingearbeitet, Entscheidungen vorbereitet, und am Ende auch getroffen hat", bisher unterschätzt worden. (IV) Für den wirtschaftspolitischen Bereich kann man sich dieser These gewiss anschließen.
Der Band beschreibt, wie es Epkenhans in seinem Tagungsbeitrag konzise zusammenfasst, die Entwicklung Bismarcks vom aristokratisch geprägten Agrarier zum umfassend interessierten und in Verfolgung seiner Interessen ebenso weitsichtig wie pragmatisch agierenden Wirtschaftspolitiker in der Phase des Übergangs von der Ständegesellschaft zur Klassengesellschaft (229ff.). Der Band versteht sich als Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die zwölf hier versammelten ausgewiesenen Experten, Historiker, Politikwissenschaftler und Ökonomen nähern sich dem Thema in elf Einzeldarstellungen überwiegend biographie- und organisationshistorisch. Daneben bietet der Band Politikfeldanalysen zu den Bereichen internationale Wirtschaftsentwicklung, Währungs- und Infrastrukturpolitik (Guido Thiemeyer, Uwe Müller), Kolonialpolitik (Winfried Speitkamp) sowie Handels- und Schutzzollpolitik (Andreas Rose) als Instrument auswärtiger Politik Otto von Bismarcks.
Der Band untersucht den aktuellen Forschungs- und Debattenstand sowohl mit Blick auf die übergeordneten Strukturen und Prozesse, die auf die Wirtschaftspolitik Bismarcks einwirkten, als auch auf das persönliche Verhältnis Bismarcks zu den Wirtschaftsvertretern. Die Beiträge spannen den Bogen von der internationalen Ebene volkswirtschaftlicher Verflechtung des Deutschen Reiches im entstehenden Weltmarkt und deren gesellschaftlichen Auswirkungen im Bismarck-Reich (Cornelius Torp) zur nationalen Ebene wirtschaftspolitscher Entwicklungen (Toni Pierenkemper), Strukturen (Ewald Frie, Werner Bührer) und Akteure (Marco Rudzinski, Ralf Stremmel). Allerdings blendet die vorgegebene Fragestellung die Soziale Frage im Kaiserreich fast völlig aus. Sozialpolitik und sozioökonomische Entwicklung werden in den Beiträgen eher beiläufig skizziert (hierzu Cornelius Torp und Winfried Speitkamp). Das gilt besonders für die Frage nach den Auswirkungen der Wirtschaftspolitik auf die Arbeiterschaft. Freilich liegen dazu bereits zahlreiche Veröffentlichungen vor. Das hier entworfene Bild Bismarcks als Wirtschaftspolitiker bleibt gleichwohl in einem zentralen Punkt unvollständig. Damit ist der Hauptkritikpunkt an der Veröffentlichung bereits vorweggenommen.
Die flüssig geschriebenen und leicht lesbaren Beiträge, die sich in erster Linie an ein Fachpublikum richten, aber auch von Einsteigern mit Gewinn gelesen werden können, eint ihr Erkenntnisinteresse. Es gilt den jeweiligen konkreten Intentionen und den Formen politischen Handelns des "Eisernen Kanzlers" sowie Bismarcks Einfluss auf die beschriebenen Prozesse, Strukturen und Akteure. Die Frage nach Bismarcks Bedeutung als wirtschaftspolitischem Strategen, die Frage nach seinem wirtschaftspolitischen Credo am Beispiel seines Verhältnisses zu den Lobbyverbänden und bedeutenden Unternehmerpersönlichkeiten stehen im Fokus mehrerer Beiträge. Marco Rudzinski ("Otto von Bismarck und Louis Baare"), Werner Brüher ("Die Unternehmerverbände und Otto von Bismarck"), Ralf Stremmel ("Otto von Bismarck und die Ruhrindustriellen - ein Vertrauensverhältnis? ") und resümierend Michael Epkenhans ("Einführung: Otto von Bismarck und die Wirtschaft - Pragmatiker oder Programmatiker? ") untersuchen das beiderseitige Verhältnis zueinander. Hierbei geht es nicht zuletzt um die Kontexte von Wirtschaftspolitik und Machtpolitik.
Gewiss war das beiderseitige Verhältnis von Wertschätzung geprägt. Bismarck schätzte den Rat einzelner Unternehmer in Sachfragen, wie die Beraterfunktion Baares im Verfahren der Unfallgesetzgebung verdeutlicht (163ff.). Auf der anderen Seite war Bismarck der Hauptadressat der Lobby-Arbeit der Unternehmerverbände, deren Vertreter ihn besonders als Reichsgründer verehrten und weniger als Ökonom und Wirtschaftspolitiker schätzten (198ff.). Von einem Vertrauensverhältnis wird man zusammenfassend kaum sprechen können. Beide Seiten versuchten vorrangig die jeweils andere für ihre politischen Zwecke einzusetzen, ohne sich selbst instrumentalisieren zu lassen (225ff.). Es war eine Zweckbeziehung zum beiderseitigen Nutzen, die nur ausnahmsweise auch zu (temporären) persönlichen Beziehungen zwischen einzelnen Unternehmerpersönlichkeiten und Bismarck führte. In dieser Hinsicht war Bismarck ein ausgesprochener Pragmatiker, der seine wirtschafts- und handelspolitischen Überzeugungen von machtpolitischen Erwägungen leiten ließ. Diese Feststellung gilt sowohl für den Bereich der Innenpolitik als auch für die Außenpolitik (234ff.).
Den Herausgebern kommt das Verdienst zu, den Blick auf eine lange Zeit unterrepräsentierte Facette des Politikers Bismarcks gelenkt und den Horizont der Debatten um Bismarck und seine Epoche erweitert zu haben. Inwiefern sich hieraus eine intensive Forschungsdiskussion entwickeln kann, bleibt freilich abzuwarten. Den Autoren des Bandes gelingt es, eine hochkomplexe Materie methodisch überzeugend einzugrenzen und analytisch konzise darzustellen. Der positive Gesamteindruck wird allerdings ein wenig durch den sich bisweilen aufdrängenden Eindruck eingetrübt, dass gesicherte und auch in Teilen längst widerlegte Befunde linksliberaler Sozialgeschichtsschreibung allzu pauschal angezweifelt werden. Namentlich an Hans-Ulrich Wehler arbeitet sich die Argumentation einiger Beiträge nicht immer überzeugend ab. So bleibt, um das auffälligste Beispiel zu nennen, Winfried Speitkamp in seinem Beitrag zur Kolonialpolitik Bismarcks einen Erklärungsversuch schuldig, warum Bismarck gegen seine Überzeugungen in die Kolonialpolitik eingestiegen ist. Das würde weiter kaum ins Gewicht fallen, schließlich gilt sein Erkenntnisinteresse in erster Linie der Frage, ob Kolonialpolitik nicht vielmehr als Strategie der kolonisierten Länder gegen lokale Wirtschaftskrisen zu interpretieren ist (70ff.), hätte er nicht zuvor u. a. Wehlers Thesen als nicht erklärungsfähig dargestellt und das Fehlen einer "einheitlichen Deutung" der Bismarckschen Kolonialpolitik bemängelt. Es bleibt zu fragen, ob eine "einheitliche" Interpretation tatsächlich adäquat die Kolonialpolitik Bismarcks zu erklären in der Lage wäre.
Salvador Oberhaus