Hubert Wolf (Hg.): "Wahre" und "falsche" Heiligkeit. Mystik, Macht und Geschlechterrollen im Katholizismus des 19. Jahrhunderts (= Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien 90), München: Oldenbourg 2013, X + 265 S., ISBN 978-3-486-71611-5, EUR 54,80
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Christliche Heilige gelten als Mittler zwischen Gott und den Menschen, deren besondere Lebensführung sie in die Nachfolge Christi stellt und nach dem Tod zu Fürsprechern für die Lebenden werden lässt. Deshalb sind Heilige im katholischen Glauben für das individuelle Seelenheil von zentraler Bedeutung: Was der Mensch alleine nicht vermag, kann ihm über das Medium des Heiligen gelingen. Spätestens nach dem kirchlichen Kanonisierungsverfahren, das im 16. Jahrhundert etabliert wurde, konnten Menschen erst einen gewissen Zeitraum nach ihrem Tod heiliggesprochen werden. Immer wieder jedoch tauchen in der europäischen Geschichte der Neuzeit Personen auf, die sich bereits zu Lebzeiten für heilig erklärten und ihre unmittelbare Nähe zu Gott in Visionen, Stigmata oder Wundern zum Ausdruck brachten. So ereignete sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts im römischen Kloster Sant'Ambrogio ein Skandal, bei dem lebende Nonnen als Heilige verehrt wurden, was sich unter anderem in verbotenen sexuellen Praktiken niederschlug und in Giftanschlägen auf unliebsame Mitwisser kulminierte. Der Fall, der zwischen 1859 und 1862 in einem geheimen Inquisitionsverfahren behandelt und von Hubert Wolf in einer beeindruckenden Monographie rekonstruiert worden ist [1], wirft die Frage auf, welchen Prinzipien die Unterscheidung von "wahrer" und "falscher" Heiligkeit im 19. Jahrhundert eigentlich gehorchte (4). Deshalb bildet er den Ausgangspunkt für die vorliegende Dokumentation eines interdisziplinären Kolloquiums, das 2013 im Historischen Kolleg München stattfand.
Der Band nähert sich dem Phänomen zunächst chronologisch. Zwei Beiträge widmen sich den Ursprüngen von Heiligkeitskonzepten in der Anthropologie und der Frühgeschichte des Christentums. Danach folgen Beispiele umstrittener Heiligkeit in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert, die von Marienerscheinungen, über Stigmatisierungen bis zum Spiritismus reichen. In einem vierten und fünften Abschnitt werden systematische Zugangsweisen zur Heiligkeit geboten, die gendertheoretische, psychologische und kirchenrechtliche Aspekte der Thematik analysieren. Der Band ist somit Teil einer kulturgeschichtlichen Öffnung der Kirchengeschichte, wie sie Hubert Wolf in der Einleitung einfordert (5).
Es ist der Interdisziplinarität des Zuschnitts geschuldet, dass die Beiträge recht unterschiedliche Zugangsweisen wählen. Materialgesättigte historische Einzelfalluntersuchungen und allgemeine Heiligkeits-Panoramen ganzer Epochen stehen neben theoretischen und systematisierenden Ansätzen aus theologischer oder kulturwissenschaftlicher Sicht. Am überzeugendsten sind die Beiträge, die diese Ebenen miteinander zu verbinden wissen, wie Gabriella Zarris Analyse und Kontextualisierung von Inquisitionsprozessen, die sich mit dem Aufkommen "angemaßter Heiligkeit" im 17. Jahrhundert auseinandersetzen, und Bernhard Schneiders vielschichtige Analyse von Marienerscheinungen im 19. Jahrhundert. Über statistische Befunde kann er Auftreten und Verteilung der Erscheinungen im europäischen Vergleich abbilden (91-93) und verschiedene innergesellschaftliche Konfliktlinien aufzeigen, die bislang bei der historischen Interpretation vernachlässigt worden sind. So sprengten Marienerscheinungen nationale Grenzen und schufen eine transnationale Gemeinschaft der Katholiken, die sich u. a. in spezifisch religiösen Protestformen auch gegen die Staatsmacht richtete (105).
Die umstrittene Heiligkeit des 19. Jahrhunderts, die sich aus den Beiträgen des Sammelbandes rekonstruieren lässt, zeigt sich in der Fülle verschiedener Äußerungsformen und in wechselnden Spannungsfeldern. Innerkirchliche Machtkämpfe um die Verortung der katholischen Kirche in einer sich säkularisierenden Gesellschaft führten dazu, dass sich die Kanonisierungspraxis transformierte: einerseits uferten die Verfahren unter Pius IX. immer weiter aus, blieben weitgehend seinem Belieben unterstellt und wurden dezidiert mit anti-rationalen Werten begründet (82). Andererseits wurde die Überprüfung von Privatoffenbarungen zum Teil in die Hände der profanen Wissenschaften gelegt, so dass nicht Theologen oder Kleriker über deren Authentizität entschieden, sondern Mediziner, Psychologen und Juristen (136). Die von Otto Weiß konstatierte Modernisierungskrise der katholischen Kirche bestätigt sich in diesen Ambivalenzen (117).
Das epochentypische Schwanken zwischen Rationalität und Irrationalität des Heiligen zeigt sich auch in den zahlreichen Bezügen, die einzelne Beiträge zur Psychohistorie des 19. Jahrhunderts herstellen. Heiligkeit und Hysterie wiesen fluide Grenzen auf und konnten in bestimmten Bereichen wie beispielsweise dem Spiritismus sogar ineinander aufgehen (159). Der Versuch Joachim Demlings, die Vorkommnisse im Kloster Sant'Ambrogio mit aktuellen psychiatrischen Krankheitsklassifikationen zu beschreiben (212f.), erscheint aus historischer Perspektive allerdings wenig überzeugend. Eine Ferndiagnose über Jahrhunderte hinweg birgt die Gefahr der unreflektierten Übernahme kulturell konstruierter Krankheitsbilder für ein Zeitalter, das ganz anderen Krankheitslogiken gehorchte.
Sinnvoller erscheinen die Ansätze, die die Psychohistorie an geschlechtergeschichtliche Beobachtungen zurückbinden und die Körperlichkeit und den sozialgeschichtlichen Kontext von Heiligkeit in den Mittelpunkt rücken. So ist der Beitrag Monique Scheers besonders gewinnbringend, weil sie bei der Interpretation von Geschlechterrollen und -funktionen im Heiligendiskurs neben der Außen- auch die Selbstwahrnehmung der beteiligten Akteurinnen thematisiert. Scheer nimmt deren soziale Funktion als Medien zwischen Himmel und Erde ernst und arbeitet heraus, wie gerade durch die körperlichen Äußerungsformen der Heiligkeit die binäre Geschlechterordnung unterminiert wurde (185ff.). Das Phänomen "weiblicher" Heiligkeit war demnach vielschichtiger, als gemeinhin angenommen wird.
Insgesamt dominiert im Band ein Blick auf das Phänomen Heiligkeit, der durch die Sicht der kirchlichen Obrigkeit präformiert wird. Die Innenperspektive der Stigmatisierten, der Seherinnen, der Gläubigen fehlt, so dass sich die Frage nach "wahrer" und "falscher" Heiligkeit zumeist auf die offizielle Anerkennung durch die Kirche bezieht. Hier hätte man sich gewünscht, dass die Selbstbeschreibungen der Akteure als Heilige in ihrer Eigenlogik wahrgenommen worden wären. Denn natürlich manifestierten sich in den verschiedenen Äußerungsformen konkrete Vorstellungen davon, auf welche Art die Beziehung zwischen Gott und den Menschen sich überhaupt offenbaren und wie sie vom Individuum wahrgenommen werden konnte.
Eine begriffsgeschichtliche Perspektive auf die Thematik wäre eine sinnvolle Ergänzung gewesen, denn in den meisten Beiträgen wird nicht deutlich, was sich hinter dem zeitgenössischen Begriff der "Heiligkeit" eigentlich verbirgt. So liefert Klaus Große Kracht zwar einen profunden Beitrag zur Ethisierung des Spiritismus, versäumt jedoch eine Verhältnisbestimmung zwischen den beschworenen Geistern der Séancen und den offiziellen Heiligen der Kirche. Trotz vieler interessanter Einzelbeiträge bleibt der Gegenstandsbereich des Sammelbandes deswegen teilweise unklar.
Geboten werden dem Leser jedoch facettenreiche Anregungen, die es lohnenswert erscheinen lassen, sich mit dem Aufblühen der Heiligkeit im 19. Jahrhundert näher auseinanderzusetzen und sie nicht als Gegenbewegung, sondern als Bestandteil der kirchlichen Modernisierung zu begreifen.
Anmerkung:
[1] Hubert Wolf: Die Nonnen von Sant'Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München 2013.
Franziska Rehlinghaus