Jörg Gabriel: Rückkehr zu Gott. Die Predigten Johannes Taulers in ihrem zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext. Zugleich eine Geschichte hochmittelalterlicher Spiritualität und Theologie (= Studien zur systematischen und spirituellen Theologie; Bd. 49), Würzburg: Echter Verlag 2013, XVI + 829 S., ISBN 978-3-429-06083-1, EUR 66,00
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Vom Straßburger Dominikaner Johannes Tauler († 1361) sind gut 80 Predigten in der Volkssprache erhalten, die eine breite Rezeption bis in die Neuzeit erfuhren. Die heute in der Forschung und auch im zu besprechenden Werk meist verwendete Ausgabe von Vetter erschien im Jahr 1910 in der Reihe 'Deutsche Texte des Mittelalters', die nach dem Leithandschriftenprinzip edierte Texte aufnehmen sollte. Vetter verwendete insgesamt drei Handschriften und Handschriftengruppen, die räumlich und zeitlich in die Nähe des Predigers führen. [1] Inzwischen hat die Forschung verschiedene Redaktionen und Bearbeitungsformen der Predigten herausgearbeitet. Aktuell werden die mehr als 180 Überlieferungszeugen im Rahmen des Projekts "Predigt im Kontext" der Universität Eichstätt erforscht. Bis heute ist es nicht möglich, Predigten zu einem vollständigen Jahrgang zusammenzustellen oder ihre Entstehungsumstände zu ermitteln. [2] Man kann davon ausgehen, dass für die Überlieferung jeweils ein spezielles Interesse maßgeblich gewesen ist, das von der theologischen Position, durch die Predigtform in konsumierbare Portionen gebracht, über die Wertschätzung des anspruchsvollen Predigers, seines spezifischen Focus auf den Menschen und die Möglichkeit der Seele zur Einheit mit Gott, der gelungenen Verknüpfung von Predigtthemen mit aus dem Textwort abgeleiteten Begriffen und Bildern bis zum Bedarf an Texten zu bestimmten, vor allem im klösterlichen Leben verwendeten Perikopen reichen konnte.
Mit dem Buchtitel "Rückkehr zu Gott" bringt Gabriel ein Grundanliegen Taulerscher Predigt auf den Begriff und gibt Kennern zugleich einen Hinweis auf die Anlage des Kernstücks seiner Arbeit, dem mit "Rückkehr zu Gott - Johannes Taulers Lebenslehre" überschriebenen dritten Teil (321-710). Aufbau und Grundfrage sind der theologischen Dogmatik verpflichtet, die sich in Thematik und Struktur mit Modifikationen, teils auch grundsätzlicher Art, bis auf die Summa theologiae des Thomas von Aquin (um 1225-1274) zurückverfolgen lässt. Gabriel ruft somit einen Fragehorizont auf, der während der Ausbildungszeit Taulers Gültigkeit hatte und Schnittstellen zur heutigen theologischen Arbeit bietet. Das titelgebende Schlagwort korrespondiert dabei mit dem Ausgangspunkt der scholastischen Dogmatik, dem Exitus-reditus-Schema [3], und wird konkret mit der Beschreibung einer Dynamik von Nähe und Distanz quer durch die behandelten Themen gefüllt.
Im ersten Kapitel stellt Gabriel grundsätzliche Aussagen Taulers zur Rückkehr des Menschen in seinen göttlichen Ursprung zusammen (324-332) und verweist gegebenenfalls auf die Behandlung in der Forschung und in der dominikanischen Theologie im Umfeld des Predigers. Das gleiche Verfahren kommt in den folgenden Kapiteln zu einer Verbindung von Gotteslehre und Anthropologie zur Anwendung, die ihren Ausgangspunkt bei "Gottes trinitarische[r] Dynamik" nimmt (Kapitel 3-5, 332-483), wobei auffällt, dass hier auch kurz von den Engeln und Maria (453-456) sowie den Sakramenten Beichte und Eucharistie (456-465) als "Hilfen für den Menschen" die Rede ist. Den folgenden Abschnitt markiert Gabriel als moraltheologischen Teil (483), ein Gebiet, das heute nicht mehr zur Dogmatik gehört, bei Thomas von Aquin jedoch als zweiter Teil auf die Lehre von Gott und Schöpfung folgt (Kapitel 6: Der Gott nahe, aber sich von Gott entfernende Mensch, 483-521). Die Ekklesiologie wird durch Aussagen zu den Gottesfreunden gefüllt (Kapitel 7, 522-539), wobei Gabriel den Begriff theologisch fasst und die historische Gruppe im Oberrheingebiet speziell anspricht. Ergänzend werden Aussagen Taulers zu verschiedenen "Ämtern" und Wegen in der Kirche zusammengetragen (Kapitel 8, 539-563). Schließlich folgen Kapitel zur Gelassenheit als den Tugenden übergeordneter Grundhaltung (Kapitel 9, 564-643) und zu den Tugenden selbst als "Übungen zur Gelassenheit" (Kapitel 10, 644-692). [4] Im letzten Abschnitt (Kapitel 11, 692-710), traditionell der Eschatologie gewidmet, erläutert Gabriel Taulers Stufenmodelle und verbindet sie mit Auferstehung und "endgültige[r] Erlösung" (697, 706, 710). Gabriel verzichtet darauf, die Aussagen Taulers untereinander in einen systematischen Zusammenhang zu bringen und trägt so der Tatsache Rechnung, dass weder die Intention der Predigten noch der Überlieferungsbefund dafür eine Grundlage bieten. So wird die Liebe im anthropologischen Teil explizit als Nebenform der Seelenkraft des Willens behandelt (371-381) und zugleich im Kapitel zu den Tugenden (665-679). Einen eigenen Abschnitt zur Seelenkraft memoria (344f.) gibt es nicht (381), andeutungsweise ist von Varianzen an diesem Punkt bei Meister Eckhart die Rede (648). Schließlich wird einer der Belege für das mittelhochdeutsche Substantiv gehugnisse (memoria), auffindbar über das Wortregister der Ausgabe, im letzten Abschnitt in der Beschreibung der Stufenmodelle gebracht (699). Die Entscheidungen Gabriels wird die künftige Forschung zu würdigen wissen. Da das nachlässig und unübersichtlich gesetzte Werk ohne jedes Register auskommt, bleibt der Leser dazu auf das Inhaltsverzeichnis angewiesen.
Dem Kernstück gehen die Teile "Historische Grundlagen - neue religiöse Bewegungen" (39-136) und "Geistesgeschichtliche Grundlagen - dominikanische Spiritualität und die 'deutsche Albertschule'" voraus (137-320). Insbesondere die historische Situierung misslingt sowohl hinsichtlich der zugrunde gelegten Materialbasis als auch hinsichtlich eines argumentativ und konkret gestützten, erhellenden Bezugs auf das Predigtwerk Taulers. Gabriel startet bei den Reformen Clunys (908/910) und Papst Gregors VII. (1073-1085) und folgt in der Grundlinie Herbert Grundmann und seinem zuerst im Jahr 1935 publizierten Werk "Religiöse Bewegungen im Mittelalter". Er geht dabei so weit, auch Grundmanns Interpretament der Entstehung einer religiösen Frauenbewegung als Protest gegen die "Folgeerscheinung der Anfänge des Kapitalismus" (115) einzubringen, ohne den Begriff "Bewegung" als terminus technicus, die Spezialforschung zu den in Zusammenhang gebrachten Phänomenen und Grundmanns Verlängerung zeitbedingter Vorstellungen in die Vergangenheit zu reflektieren. [5] An Publikationen, deren Quellenforschung ins unmittelbare Umfeld Taulers führt, geht er zu oft vorbei, wie am Sammelband "Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt", an der Arbeit Ehrenschwendtners zur Bildung der Dominikanerinnen oder der Ausgabe der Werke des Dominikaners Johannes von Sterngassen. [6]
Die "Schlussreflexion" (711-766) ist wertvoll durch die Beschreibung von Taulers Spiritualität auf der Ebene theologischer Reflexion (724-752). Der Abschnitt bringt eine Interpretation des präsentierten Materials mit vergleichendem Blick vor allem auf Meister Eckhart (um 1260-1328) und schließt mit Überlegungen zur anthropologischen Bedeutung in modernen Gesellschaften. In den voranstehenden grundsätzlichen Abschnitten gelingt Gabriel unter Berufung auf Büchner ein vorsichtiger Hinweis auf den Vorausverweis spätmittelalterlicher Theologie auf die neuzeitliche Mentalität (714), was Tauler besser gerecht wird als die Zuordnung zum Hochmittelalter im Untertitel des Buchs. Abschließend wird die von Willigis Jäger (geboren 1925) vertretene Spiritualität als Missverständnis der Theologie Taulers kritisiert. Die Arbeit wurde im Wintersemester 2009/10 am Bochumer Lehrstuhl für Fundamentaltheologie bei Markus Knapp als Dissertation angenommen.
Gabriels Buch kann der Tauler- und Predigtforschung allgemein durch das reiche, von der Forschung noch nicht in vollem Umfang diskutierte Material und durch die ihm eigene Struktur neue Impulse geben. Es ist zudem interessant für alle, die sich mit dem Verhältnis von Mittelalter und Moderne beschäftigen. Leider sind die Auskünfte über das eigene Vorgehen und den Aufbau völlig unzureichend (27-32).
Anmerkungen:
[1] Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, herausgegeben von Ferdinand Vetter, Berlin 1910 (Deutsche Texte des Mittelalters 11).
[2] Johannes Gottfried Mayer: Die "Vulgata"-Fassung der Predigten Johannes Taulers. Von der handschriftlichen Überlieferung des 14. Jahrhunderts bis zu den ersten Drucken, Würzburg 1999 (Texte und Wissen 1); Rudolf Kilian Weigand: Predigen und Sammeln. Die Predigtanordnung in frühen Tauler-Handschriften, in: Studien zur deutschen Sprache und Literatur. Festschrift für Konrad Kunze zum 65. Geburtstag, hg. v. Václav Bok u.a., Hamburg 2004 (Studien zur Germanistik 10), 114-155. Ergebnisse des von Weigand geleiteten Projekts an der Universität Eichstätt werden veröffentlicht unter: http://pik.ku-eichstaett.de/.
[3] Johanna Rahner: Einführung in die katholische Dogmatik, Darmstadt 2008, 107. Vgl. dazu bei Gabriel lediglich die 31, Anm. 210 zitierte Äußerung Grundmanns und 320, Anm. 1107 den Verweis auf Mieth. Ich danke den MitarbeiterInnen der Bibliothek des Seminars für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin für ihre Hilfe.
[4] Vgl. dazu den Aufriss des Lehrinhalts bei Volker Mertens: Das Predigtbuch des Priesters Konrad. Überlieferung, Gestalt, Gehalt und Texte, München 1971 (MTU 33), S. IX (Inhaltsverzeichnis), wo die Tugenden gleichfalls nach der Ekklesiologie in einem Abschnitt zu den Heilsmitteln - gefolgt von Gebet, guten Werken, Prüfungen und Sakramenten - abgehandelt werden.
[5] Gabriels Vorgehen wird nachvollziehbar angesichts Grundmanns Annahme einer "durchgehenden religiösen Bewegung". Grundmanns Untersuchungen "gehen also von der Voraussetzung aus, dass die Entstehung von Orden und Sekten nicht isolierte, voneinander unabhängige und nur durch den Willen und die Tat eines Stifters oder die zufällige Überlieferung einer häretischen Lehre veranlasste Vorgänge sind, sondern gemeinsam in einem geschichtlichen Zusammenhang der religiösen Entwicklung des Abendlandes stehen." Herbert Grundmann: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, 2. verbesserte und ergänzte Auflage (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1935), Hildesheim 1961, 9. Dies vorausgesetzt, könnte es tatsächlich konsequent erscheinen, lediglich die Berührungspunkte zu Tauler zu benennen. Vgl. aber die Literatur zur Kritik an Grundmanns Modell bei Klaus-Bernward Springer: Albertus Magnus und die "religiöse Frauenbewegung", in: Walter Senner u.a. (Hgg.): Albertus Magnus. Zum Gedenken nach 800 Jahren. Neue Zugänge, Aspekte und Perspektiven (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. NF Bd. 10), Berlin 2001, 647-662, hier 647, Anm. 4. Der Sammelband ist in Gabriels Literaturliste verzeichnet.
[6] Andrés Quero-Sánchez / Georg Steer (Hgg.): Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt (Meister-Eckhart-Jahrbuch 2), Stuttgart 2008; Marie-Luise Ehrenschwendtner: Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddeutschland vom 13. bis 15. Jahrhundert (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 60), Stuttgart 2004; Walter Senner: Johannes von Sterngassen OP und sein Sentenzenkommentar, Bd. 1-2 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens N.F. 4-5), Berlin 1995.
Monika Costard