Gregor Wedekind / Max Hollein (Hgg.): Géricault. Bilder auf Leben und Tod. [Anlässlich der Ausstellung Géricault - Bilder auf Leben und Tod, Schirn-Kunsthalle Frankfurt, 18.10.2013 - 26.1.2014, Museum voor Schone Kunsten Gent, 21.2. - 25.5.2014], München: Hirmer 2013, 224 S., 155 Farb-, 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-2077-6, EUR 39,90
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Es gab hierzulande noch keine große Ausstellung zu Théodore Géricault (1791-1824), die dem umfangreichen Œuvre gewidmete Schau schließt endlich die Lücke. Da zu seinen zahlreichen Gemälden und Grafiken Werke anderer Künstler, Fotografien und weitere Materialien hinzukommen, war eine Schau der Art "Der Maler X und seine Zeit" zu befürchten, die den Mangel an Originalen des Meisters mit einer Fülle recht beliebiger anderer Exponate zu kaschieren trachtet. Das ist hier keineswegs der Fall. Die Schau stellt ein Novum in der Geschichte der bedeutenden monografischen Ausstellungen dar: sie verabschiedet die Meistererzählung und die damit einhergehende Verklärung großer Werke. Wie gelingt es ihr, das zählebige Muster zu überwinden? Der Kurator, Gregor Wedekind (Universität Mainz), legt im Katalog seine Forschungsergebnisse vor und visualisiert sie in Formen zeitgenössischer Kunst. Die Ausstellung ist weder chronologisch, noch nach Gattungen, Motiven, Techniken geordnet, sie bietet die raumübergreifende Struktur und offenen Bedeutungsfelder einer Installation. Damit korrespondiert ein neues Textformat. Wedekind legt einen großartigen Essay vor, der sämtliche Exponate unter den weiten Horizont der Begriffe "Kämpfe - Körper - Köpfe - Krisen" stellt. Jenseits populistischer oder selbstreferentieller Darlegungen erfolgt eine Annäherung, wie sie nur einem Experten gelingt, der beides im Blick hat: die Kunst und den werkkonstituierenden Part der Betrachter.
Unter den ergänzenden Beiträgen ist Claude Quétels Untersuchung "Géricault und die Psychiatrie der Romantik", welche relevante Reformansätze beleuchtet, besonders interessant.
Was tun, wenn das berühmteste, das kanonische Werk, "Das Floß der Medusa" (1819), nicht ausleihfähig ist (4,91 × 7,16 m)? Wie inspirierend Abwesenheit sein kann, erfahren wir hier, denn es sind nicht nur die direkten Vorarbeiten für den entsetzlichen Überlebenskampf Schiffbrüchiger zu sehen, sondern die vielfältigen Exponate sind so ausgewählt und in einem konzeptuellen Verfahren arrangiert, dass wir das Hauptbild als Summe aus dem ausgestellten Bilderschatz gewinnen.
Die aufwändigsten Objekte stehen am Eingang: zwei lebensgroße Liegefiguren, Allegorien der Melancholie und der Tobsucht vom Portal einer der ältesten psychiatrischen Anstalten, die Caius Gabriel Cibber 1676 schuf (Kat. 139, 140). Wenn wir das enge Tor passieren, sind wir auf dem fremden Boden der Physiognomik und Psychiatrie, des Krieges und der Körperqualen. In diesen Räumen sind Géricaults Arbeiten häufig in außerkünstlerische Bildgeschichten eingelagert.
Frühe Werke der Physiognomik - Charles Le Bruns "Têtes d'expression", 1689 posthum und Johann Caspar Lavaters "Physiognomische Fragmente", 1775-78 (Kat. 86, 87), führen zu einer Gattungen und Medien übergreifenden Sammlung medizinhistorischer Köpfe, Ausdrucksstudien, Karikaturen, repräsentativer Büsten - wie David d'Angers "Paganini", 1830. In diesem Kontext stehen Géricaults hohlwangiger "Schiffbrüchiger" und das Porträt eines Afrikaners (1818/19) für sein Verfahren, das jeweilige Modell gründlich zu studieren und zugleich den für Historienbilder, wie die "Medusa", notwendigen lesbaren Ausdruck herauszuarbeiten (Kat. 109, 103).
Das physiognomische Paradigma schlägt in einer Galerie abgeschlagener Köpfe in visuellen Exzess um. Im revolutionären Triumph aufgespießt, im Abguss festgehalten - so Robbespierre - in Blutfarben gemalt, vergegenwärtigen sie Gewalt und Krieg in der Epoche der Revolution und der Herrschaft Napoleons, die im "Floß der Medusa" ihren extremsten Ausdruck fanden. Unter den auch im Pariser Leichenschauhaus vorbereiteten Arbeiten zeigen nahsichtig dargebotene Köpfe von Hingerichteten, wie genau der Maler Grauenvolles registrierte, um in der malerischen Durchführung ästhetische Distanz herzustellen (Kat. 114).
Zu den spektakulären Leihgaben der vier Porträts von Geisteskranken (1819-23) leitet ein Selbstbildnis Johann Heinrich Füsslis (Zeichnung, 1780/90). Die übersteigert großen Augen, die Imagination, Traum und Wahn als Domäne des romantischen Künstlers ausweisen, bezeugen die Verwandtschaft mit anderen Außenseitern, die dadurch etwas vom Stigma psychischer Abweichung verlieren (Kat. 100). Die ursprünglich wohl zehn Gemälde (ca. 70 × 60 cm) wurden erst später als "Monomanen" bezeichnet. Demnach sind die Neid, Diebstahl, Kindsraub und Glücksspiel verfallenen Menschen dargestellt (Kat. 134-137). Die Modelle lebten in der Pariser Klinik Salpêtrière, aus dem Nachlass des dort tätigen Arztes und Forschers Etienne-Jean Georget stammen die Gemälde. Der Maler erfasst die jeweilige Individualität, die ärmliche Kleidung und vor allem der unverwandt auf ein nicht bestimmbares Objekt fixierte Blick sind Symptome des Andersseins. In der Art, wie die Lichtführung die Miene und weiße Haube einer alten Frau aus dem Dunkel heraushebt, einige Rottöne Akzente setzen und Stofflichkeiten unterschieden sind, zeigt sich Géricault Franz Hals verwandt. Kleidung und Gesicht der "Monomanin des Glücksspiels" sind dagegen gleichermaßen in lumpenhaftem Graubraun gehalten.
Wie stets, ist es auch hier interessant, Text und Präsentation hinsichtlich der unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkte zu vergleichen. Das Kapitel "Krisen" ist dem Diskurs der Geisteskrankheiten gewidmet. Von Cibbers Portal bis zu Hogarths "Tom Rakewell im Irrenhaus" (1735) werden ikonografische Muster sowie der Einfluss von Le Bruns "Têtes d'expression" auf zeitgenössische medizinische Lehrbücher, wie Georges-François-Marie Gabriels "Köpfe von Geisteskranken", um 1813 (Kat. 150), und auf die frühe Anstaltsfotografie untersucht. Die Fotografien von Patienten, die der Psychiater Hugh Welch Diamond um 1850 zum Zweck der Klassifizierung von Geisteskrankheiten herstellte (Kat. 151), verband er mit dem Schema bürgerlicher Porträtmalerei. Dass Géricault anstelle von Krankheitsbildern Menschen sah, die von psychischen Leiden gezeichnet sind, legt die subtile Analyse der "Monomanen" im Katalog dar.
Im Unterschied zum Katalog arbeitet die räumliche Vernetzung der Schaustücke die Psychiatrie als Institution deutlicher heraus. Eine der qualvollen klinischen Methoden demonstriert ein Patient in der Zwangsjacke. Während Wilhelm von Kaulbachs "Narrenhaus" (1835) ein Tableau verhaltensauffälliger Menschen vor einem gefängnisartigen Bau zeigt, erhellt George Romneys Zeichnung "John Howard besucht Gefängnisse und Lazarette" (1790-92) das Bestreben zeitgenössischer Philanthropen, diese Institutionen zu humanisieren (Kat. 153, 145, 146). Es liegt nahe, dass Georget die Reputation der Salpêtrière durch die künstlerische Ausstattung steigern wollte. Die Porträtgalerie eignete sich besonders zur Nobilitierung, da Géricaults "moderner Realismus" (Wedekind) offensichtlich als künstlerisches Äquivalent zur fortschrittlichen klinischen Forschung und Behandlung angesehen wurde. So sind die Bildnisse Teil der medialen Selbstdarstellung der Psychiatrie und über die Zeiten hinweg mit dem monumentalen Eingangsportal verbunden.
Die große Leistung Géricaults im Bereich der Lithografie wird auch hier hervorgehoben, vor allem wird sein Ruhm als Pferdemaler völlig neu begründet. Das noch junge, zunächst wenig angesehene Medium entwickelte er 1821 in den zwölf Blättern der "Various Subjects Drawn from Life" weiter (Kat. 24ff.). Die moderne Technik und die eindrucksvollen bildartigen Kompositionen waren geeignet, Bedürftige und Benachteiligte einem Publikum nahe zu bringen, das sozialen Missständen der Zeit, Armut, Sklaverei und Kriegsfolgen humanitäre Tendenzen entgegensetzte. Die Fuhrmänner und schweren Arbeitspferde - unterschiedslos in Rückenansicht gegeben - die durch ein breites Tor in gestaltloses Dunkel gehen, wirken als Verwerfung der romantischen Rückenfigur (Kat. 27). Die Ausstellung lässt das "Ausnahmepferd" der Romantiker außer Acht. Weder wird das im Reiterbildnis heroisierte Pferd, etwa Jacques-Louis Davids "Napoleon", noch das von Delacroix dämonisierte oder das apokalyptische "fahle Pferd" einmal mehr zitiert. Vielmehr deckt die Ausstellung den Jahrhunderte währenden "kentaurischen Pakt" in Géricaults Perspektive auf. Quer durch alle Themenfelder der Ausstellung verfolgen wir die Engführung von Mann und Pferd - den geradezu naturwissenschaftlichen Zugriff in der Art von George Stubbs (1724-1804) auf Skelett und Muskeln von Mensch und Pferd, die egalitäre Einreihung des malerisch brillanten Pferdeporträts (Kat. 106) in das Ensemble weiblicher und männlicher Köpfe, die Gemeinschaft von verwundeten Soldaten und erschöpften Pferden in Lithografien zum Napoleonischen Krieg, 1818 (Kat. 7-9). Ihr Realismus verknüpft sie mit Goyas "Schrecken des Krieges" und Menzels "Totem Husar" (Kat. 13, 14) und schlägt zuletzt in den "Abgetrennten Gliedmaßen" (Kat. 75, 77) ins Unerträgliche um.
Bekanntlich verzichten Museen kaum jemals darauf, Ausstellungen bedeutender historischer Kunst durch ein jeweils angesagtes Design aufzupolieren. Hier aber wird das Potential der in der Fachliteratur bereits etablierten Forschungsmethoden und bekannter Kunstformen genutzt, um Géricault zu aktualisieren. So steht denn für die weitere Arbeit am Medium Ausstellung ein zukunftsfähiges Modell zur Verfügung.
Ellen Spickernagel