Rezension über:

Ole W. Fischer: Nietzsches Schatten. Henry van der Velde - von Philosophie zu Form, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2013, 624 S., 22 Farb-, 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2643-0, EUR 79,00
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Rezension von:
Stefanie Lieb
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Stefanie Lieb: Rezension von: Ole W. Fischer: Nietzsches Schatten. Henry van der Velde - von Philosophie zu Form, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 5 [15.05.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/05/22920.html


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Ole W. Fischer: Nietzsches Schatten

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Die Suche nach einem programmatischen Zusammenhang zwischen der Philosophie Friedrich Nietzsches und der Architektur ist in der architekturtheoretischen Debatte bereits seit einigen Jahren etabliert: Fritz Neumeyer eröffnete mit seinem "Klang der Steine" 2001 [1] den Diskurs, Jörg H. Gleiter schloss 2009 mit seiner Habilitationsschrift "Der philosophische Flaneur" an. [2] Nun folgt die vorliegende umfangreiche Dissertation von Ole W. Fischer, die Nietzsches Philosophie und Henry van de Veldes Kunsttheorie sowie sein Design und seine Architektur in eine mehr oder weniger direkte Wechselbeziehung zueinander setzt.

Dies erfolgt jedoch nicht auf eine plakative oder anekdotische Art und Weise (der erste Satz der Einleitung Fischers lautet: "Friedrich Nietzsche (1844-1900) und Henry van de Velde (1863-1957) sind sich nie begegnet" [7]), sondern durch eine sehr akribische, fundierte und enorm aufwendige Vorstellung, Vergleichsanalyse und Auswertung sämtlicher Schriften Nietzsches und van de Veldes sowie der Objekte und Bauten van de Veldes, die im unmittelbaren Bezug auf Friedrich Nietzsche entstanden sind, hier vor allem der Schmuckumschlag der Insel-Prachtausgabe des "Zarathustra" und der Bau des Nietzsche-Archivs in Weimar.

Über die Parallelsetzung von Nietzsches und van de Veldes Kunstphilosophie hinaus, bietet Fischers Studie die Perspektive auf ein Nietzsche-Bild der van de Velde-Ära, sprich der Zeit des Jugendstils, der Lebensreform und der Décadence. Und auch hier belässt es der Autor nicht bei der bereits häufig bemühten Vereinnahmung Nietzsches durch den Fin de Siècle mit dem üblichen Schlagwort des "Neuen Menschen", sondern kann aufgrund seiner Recherchen im Archivmaterial etliche neue Ansätze der Nietzsche-Rezeption nach 1900 herausarbeiten.

Ole W. Fischer startet seine Analyse mit den kunstphilosophischen Schriften Friedrich Nietzsches und kann nach Durcharbeitung der kritischen Studienausgabe des Philosophen (6000 Seiten!) einige Kernpunkte herausschälen, die sich in Henry van de Veldes Kunsttheorie wiederfinden lassen: die Frage der Kultur (31), das Problem der Geschichte (34), das Problem der Erziehung (36), Artistik statt Ästhetik (38), das wissenschaftliche Denkmodell (41) und Dionysos als Philosoph (96). Der darauffolgenden Auswertung der Schriften Henry van de Veldes schickt der Autor die Bedenken voraus, dass es sich hierbei weder um "eine Anleitung zum guten Bauen" handele, noch, dass diese Texte "den systematischen Anspruch von Traktaten" erfüllen. Vielmehr handeln sie "von einem Dazwischen, von der Problematisierung und Befragung der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft, von der Auseinandersetzung mit der Moderne und ihrer Ausprägung in den Künsten, denen sie sich auf essayistische Art nähern" (219). Fischer strukturiert die Ergebnisse der van de Veldschen Textanalyse in zehn Themenfelder, von denen hier nur eine Auswahl von sechs angeführt wird: Moralische Architektur und die Problematisierung des Historismus (219), die Einheit der Künste (247), Organischer Aufbau (274), Linie und Ornament (305), Maschine, Industrie und Ingenieur (325) und der Neue Stil (340).

Im vierten Kapitel "Der Wille zur Kunst" liest Ole W. Fischer Nietzsche und van de Velde parallel, das bedeutet, dass er hier, vorrangig ausgehend von den Schriften van de Veldes, in einer thematischen Perspektive "die einzelne(n) Probleme, Fragen oder Denkfiguren der beiden Autoren vergleichend nebeneinander stellt" (415). Durch die Recherche nach direkten Nietzsche-Verweisen in van de Veldes kunsttheoretischen Texten, Memoiren sowie Briefen gelingt es Fischer u.a. herauszuarbeiten, dass van de Veldes Nietzsche Lektüre-nicht wie bisher angenommen, bereits Ende der 1880er-Jahre einsetzte, sondern wohl später, frühestens 1892 (438). Als zentrale sprachlich-gedankliche Parallele zwischen Nietzsche und van de Velde führt der Autor die Sonnen- und Lichtmetaphorik an, die in Nietzsches "Also sprach Zarathustra" eine große Bedeutung hat und zu einem "Symbol der Reformkräfte um 1900 werden sollte" (418). Weiterhin werden auch der Gedanke der Einheit der Künste und das Idealbild einer Einheit von Kunst und Leben, d.h., "die Kunst zu einem Fest, zu einem religiösen Kultus des Lebens" umzudeuten (418), bei Nietzsche sowie danach bei van de Velde formuliert.

Die sogenannte "Nietzscheana" Henry van de Veldes, also seine künstlerischen Arbeiten, die sich direkt auf Friedrich Nietzsche beziehen, kennzeichnet Ole W. Fischer als "programmatische Kunst" und erklärt diesen Begriff in der Gleichsetzung mit dem Terminus der "Programm-Musik", wie er im 19. Jahrhundert in der Musikgeschichte zwischen den Antipoden Eduard Hanslick und Richard Wagner diskutiert wurde (493). So ist das von Henry van den Velde gestaltete Nietzsche-Archiv in Weimar, das er von 1902-03 im Auftrag der Schwester Nietzsches, Elisabeth Förster-Nietzsche, und durch die Vermittlung Harry Graf Kesslers, umbaute und erweiterte, als eine programmatische Architektur in Bezug auf den Philosophen Nietzsche zu interpretieren (526). Die zweite Nietzsche-Arbeit van de Veldes, die Buchgestaltung des "Zarathustra", die bereits 1898 von Harry Graf Kessler beauftragt wurde, jedoch erst 1908 in Druck ging, hat wiederum eine vergleichbare Parallele in der Umschlaggestaltung des "Zarathustra" von Peter Behrens von 1902 und zeigt wunderbar, wie Nietzsches Gedankengut in den Jugendstilformen um 1900 seine formgestalterische Umsetzung fand (563).

"Nietzsches Schatten" von Ole W. Fischer ist eine herausragende Studie über die Parallelbezüge zwischen Friedrich Nietzsches Philosophie und Henry van de Veldes Kunsttheorie, seinem Design und seiner Architektur, da sie vor allem auch ein unglaublich umfangreiches Kompendium an ausgewertetem Quellen- und Archivmaterial bietet, das nicht nur die Nietzsche-Forschung, sondern besonders die Forschungen zu Henry van de Velde und den Grundlagen der Kunst und Architektur der frühen Moderne einen Riesenschritt weitergebracht hat.


Anmerkungen:

[1] Fritz Neumeyer: Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen, Berlin 2001.

[2] Jörg H. Gleiter: Der philosophische Flaneur - Nietzsche und die Architektur, Würzburg 2009.

Stefanie Lieb