Viccy Coltman / Stephen Lloyd (ed.): Henry Raeburn. Context, Reception and Reputation, Edinburgh: Edinburgh University Press 2012, XIX + 388 S., 70 Farbabb., ISBN 978-0-7486-5484-0, GBP 29,99
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Zuschreibungen sind, das ist fürwahr kein Geheimnis, eine durchaus heikle Angelegenheit. Wird unerwartet ein neuer Alter Meister wiedergefunden oder gar von Expertenhand auserkoren, freuen sich sowohl der geneigte Finder, die überraschte Sammlung, aber auch ganze Nationen. Es gibt nahezu niemanden, der von einer positiven, denn aufwertenden, Neuzuschreibung nicht profitieren würde. Am stärksten dürfte es dem Werk selbst zugute kommen, denn es rückt plötzlich von der verstaubten Nische ins Zentrum der Aufmerksamkeit der internationalen Kunstinteressierten. Nun wird nicht alle Tage die Leinwand eines unbekannten Gottfried Möchtegern, der gerne Tannenwipfel malte, zu einem veritablen Caspar David Friedrich erklärt. Auch der unwillkommene umgekehrte Fall tritt hin und wieder ein, ein Fall, der der Sammlung und betreffenden Nation viel weniger behagt. Unliebsam ist es, wenn die Tannenwipfel eines vormals als Friedrich gehandelten Werkes doch als Wipfel des Gottfried Möchtegern enttarnt werden. Dies scheint besonders bitter, wenn es sich um den "Nationalkünstler" eines Landes handelt, einen Künstler, den die Nation mit Stellvertretercharakter ausgestattet hat und das betreffende Bild nun plötzlich gar nicht mehr von diesem stammen soll. Um das Ausmaß der im Folgenden diskutierten Publikation und den darin enthaltenen Thesen ermessen zu können, lohnt sich ein Gedankenexperiment. Nehmen wir einmal an, ein italienischer Kunsthistoriker schlüge vor, die Sixtina sei eigentlich von Dürer gestaltet worden. Ein französischer Kunstsachverständiger erklärte, La Liberté Guidant le Peuple sei nicht von Delacroix gemalt, sondern von William Turner. Ein Deutscher käme darauf, dass der Mönch am Meer nicht von Friedrich, sondern von Ingres stamme und ein Russe erklärte, Malewitschs schwarzes Quadrat habe eigentlich Piet Mondrian geschaffen. Eine solche These ist kulturpolitischer Sprengstoff, denn hier stehen nicht nur monetäre und ästhetische Werte auf dem Spiel, das politische Erbe und Selbstverständnis einer Nation werden zeitgleich mitverhandelt.
Die vorliegende Publikation Henry Raeburn - Context, Reception and Reputation, herausgegeben von Viccy Coltman (Senior Lecturer und Head of History of Art an der University of Edinburgh) und Stephen Lloyd (vormals Chefkurator an der Scottish National Portrait Gallery und inzwischen Kurator der Derby Collection von Knowsley Hall on Merseyside) basiert auf einem Szenario, wie es soeben entworfen wurde. 2005 erschien der von Stephen Lloyd verfasste Artikel "Elegant and graceful attitudes": the attribution of the famous sporting picture of The Revd Robert Walker ('The Skating Minister') im Burlington Magazine. Der Beitrag avancierte mit seiner These, der Inbegriff eines schottischen Kirchenmannes, der in komischer Würde bis zum Sanktnimmerleinstag seine Runden auf dem gefrorenen Duddingston Loch dreht, stamme nicht vom Lieblingsmaler der schottischen Aufklärung, sondern sei ein Werk des französischen Exilmalers Henri-Pierre Danloux - eines sehr fähigen, jedoch eben nicht schottischen Zeitgenossen Raeburns, zur cause célèbre (xvi). Die Zuschreibungsdebatte, die in der Folge um das Zugpferd der schottischen Nationalgalerie geführt wurde und nach wie vor wird, sucht ihresgleichen und dient als Beispiel, bei dem sich die Diskussionsfreudigkeit durchaus nicht auf akademische Kreise beschränkt, sondern ganz Schottland zu aufgeregten Kommentaren im Netz und in der Presse verleitete.
Der Sammelband, den es zu besprechen gilt, nutzt das erneut entfachte Interesse an Henry Raeburn und wagt nach einer mäßig inspirierenden Ausstellung, die 1997-98 in London und Edinburgh zu ihm gezeigt wurde, erstmals eine umfassende neue Perspektive auf den Mitbegründer der Schottischen Schule. [1] Anlass zur Wiederaufnahme der Beschäftigung mit Raeburn war dessen 250. Geburtstag, der 2006 mit einer Konferenz in Edinburgh gefeiert wurde, die den Titel Henry Raeburn: critical reception and international reputation trug und von den Autoren der vorliegenden Studie organisiert wurde (xvii).
Die Herausgeber setzen es sich zum Ziel, Raeburn aus seiner "artistic isolation" zu befreien und ihn in den Kontext seiner schottischen, gesamt-britischen und gar französischen wie auch US-amerikanischen Kollegen einzubetten (xvi). Man ist bestrebt, sowohl die Rezeptionsgeschichte als auch den kosmopolitischen Kunstmarkt in den Blick zu nehmen. Traditionelle kunsthistorische Verfahrensweisen sollen durch politische, wirtschafts-, kultur-, und sozialgeschichtliche Aspekte ergänzt werden. Die Einleitung von Coltman und Lloyd verspricht dem Leser also das, was er angesichts einer angekündigten Neueinordnung eines auf dem Kontinent eher durchschnittlich bekannten Malers im Jahr 2012 erwarten darf. Es wird mit dem Hinweis auf den sich in Vorbereitung befindenden Œuvre-Katalog, den das Paul Mellon Centre for British Studies/Yale in Angriff genommen hat, darauf aufmerksam gemacht, dass man auf kennerschaftliche Ansätze verzichten möchte - "in favour of a more robust, critical volume" (xvii). Tatsächlich scheint diese Aussage zunächst überraschend zurückhaltend angesichts der bereits 2005 sehr offensiv und sehr kennerschaftlich vertretenen These des einen Herausgebers, der Skating Minister stamme nicht von Raeburn. Man kann nur vermuten, dass der Gegenwind, den der Artikel verursacht hatte, diesen diplomatischen Schach(-Rück-)zug in eine kulturgeschichtlich-interdisziplinär fundierte Argumentation begünstigte.
Das Buch unterteilt die Auseinandersetzung mit dem Künstler in die drei Sektionen "Context", "Reception" und "Reputation". Im den Kontext des Künstlers betreffenden ersten Teil werden die Beiträge von Stephen Lloyd, Helen E. Smailes, Viccy Coltman, Godfrey Evans und Stana Nenadic zusammengeführt und Raeburn als überaus produktiver und anerkannter Künstler präsentiert. Während Lloyd anschaulich den internationalen Kunstmarkt näher analysiert, nimmt Smailes gekonnt die Stellung Raeburns als schottischer Canova in den Blick (35-65)/(66-96). Coltman lenkt die Aufmerksamkeit auf die Unterschiede zwischen der Porträtproduktion von London und Edinburgh in den 1810ern und Evans zeigt auf, wie Sammlerambitionen Raeburn international mit Größen wie David konkurrieren ließen (97-121)/(122-152). Schließlich erörtert Nenadic in ihrem aufschlussreichen Artikel, inwiefern Raeburn und das Edinburgher Druckwesen in den Dekaden um 1800 nationale Identitäten der Aufklärung beeinflussten (153-178). Nicht zuletzt an dieser Stelle wird es für den Leser offenkundig, warum die Debatte um den Skating Minister derart hohe Wellen schlagen konnte.
Der zweite, die Rezeption behandelnde Abschnitt der Publikation vereint die Beiträge von Nicholas Tromans, Philippe Bordes, Robyn Asleson und Sarah Symmons. Tromans beginnt darin mit einer fundierten Einschätzung von Raeburnschen Ausstellungen in der Royal Academy zwischen 1792-1823, gefolgt von Bordes' Analyse des Konkurrenzverhältnisses der Maler diesseits und jenseits des Kanals (179-207)/(208-223). Asleson richtet in der Folge das Interesse auf das Netzwerk zwischen Schottland und Amerika, das nicht zu unterschätzen ist, und Symmons weitet den Horizont auf den Bezug zu Goya aus (224-257)/(258-288).
Der dritte und letzte Teil befasst sich mit der Frage nach Raeburns Reputation und stellt die Beiträge von Matthew Craske, Jordan Mearns, Olivier Meslay und David Alexander nebeneinander. Craske arbeitet die Stilisierung Raeburns zum vorbildlichen schottischen Gentleman seitens seines ersten Biografen, Allan Cunningham, heraus, Mearns hingegen räumt mit dem lange bestehenden Vorurteil auf, die männlichen Porträts von Raeburn seien hochwertiger einzuschätzen als die weiblichen (289-313)/(314-334). Meslay geht der Frage nach, warum Raeburn in Frankreich einen seit jeher so uneingeschränkt guten Ruf genießt und Alexander arbeitet schließlich die Verbreitung von Raeburns Motiven im späten 19. Jahrhundert heraus, die der Wiederentdeckung der Mezzotinto-Technik im Zuge des sogenannten Duveen-Taste geschuldet ist (335-350)/(351-366).
Henry Raeburn - Context, Reception and Reputation bietet eine sehr empfehlenswerte, konzise und faktenbasierte Lektüre, die sehr zu Recht erneut das Augenmerk auf einen äußerst kunstfertigen Porträtmaler lenkt, der zu seiner Zeit nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Mitglieder der schottischen Aufklärung auszuüben vermochte. Darüber hinaus zeigt die Studie, dass er über die Grenzen seines Landes hinaus höchste Bekanntheit erlangte und die Kunstproduktion der Zeit um 1800 entschieden vorantrieb.
Ob allerdings nun die schottische Ikone der Malerei, der Skating Minister, tatsächlich von einem Franzosen oder doch von Raeburn stammt, lässt sich auch durch diesen Sammelband nicht eindeutig feststellen, was allerdings auch nicht das Anliegen des Bandes ist. Festzuhalten bleibt: Reverend Robert Walker hätte in jedem Fall gut daran getan, sich von Henry Raeburn porträtieren zu lassen. Und wenn er es tatsächlich unternommen hat - dann ist alles in bester schottischer Ordnung.
Anmerkung:
[1] The Art of Sir Henry Raeburn (Ausstellungskatalog der Scottish National Portrait Gallery, Edinburgh 1997).
Nele Martina Putz