Annette Jünemann / Anja Zorob (Hgg.): Arabellions. Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und Nordafrika (= Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2013, VIII + 329 S., ISBN 978-3-531-19272-7, EUR 34,99
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Die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas nahmen im Dezember 2010 ihren Anfang und befinden sich bis heute im Wandel. Nicht nur die unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen und politischen Konsequenzen sind zu beobachten, sondern auch die verschiedenen Beweggründe und Akteurskonstellationen der Proteste sowie die bisherigen Ergebnisse der Transformationsprozesse.
Der Sammelband "Arabellions. Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und Nordafrika", 2013 von Annette Jünemann und Anja Zorob herausgegeben, vereint verschiedene interdisziplinäre Forschungsansätze im Kontext des "Arabischen Frühlings".
Ziel des Buches ist die vielschichtige Analyse der Ursachen und Entwicklungen der Umbrüche, die sich in den Ländern der arabischen Welt ereignet haben. Daher ist die Auswahl der Autorinnen und Autoren aus der Politikwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, der Islamwissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft gelungen, um aus verschiedenen Perspektiven und jeweils landesspezifisch ein umfassendes Bild des "Arabischen Frühlings" bieten zu können.
Die Beiträge sind entweder empirisch angelegt und basieren auf Feldforschungen, andere stützen sich bei der Beantwortung ihrer Fragestellung auf theoretische Stränge der Transformations- und Revolutionsforschung sowie der Friedens- und Konfliktforschung.
Im Rahmen dieser disziplinären und methodischen Vielfalt gliedert sich der Band in drei Abschnitte: Länderstudien, die die Heterogenität der einzelnen Entwicklungen verdeutlichen, Querschnittanalysen zur Erörterung struktureller Faktoren und ergänzende Beiträge, in denen die Auswirkungen auf den Iran, Israel und Palästina sowie die EU thematisiert werden.
Cilja Harders beschäftigt sich in ihrem Beitrag (19-42) mit der "Transformation ohne Transition" (21) in Ägypten. Sie analysiert die Ursachen der Massenproteste und geht der Frage nach, wie diese den Sturz eines als stabil geltenden autoritären Herrschaftssystems herbeiführen konnten und wie die weitere Transformation verlief. Harders entwickelt einen analytischen Rahmen, in dem sie Ansätze der Transformationsforschung plausibel erweitert und das Verhältnis von Strukturfaktoren, Akteurskonstellationen und situativen Dynamiken untersucht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Veränderungen auf der Akteursseite die aktuellen Ereignisse erklären müssen, da sich die grundlegenden (ökonomischen, geostrategischen und politischen) Rahmenbedingungen nicht geändert haben. Die Anwendung physischer Gewalt der beteiligten Akteur_innen ist laut Harders ein wichtiger Erklärungsansatz für die weitere Entwicklung: vor allem die staatlichen Repressionen der Proteste führten zu weiteren Mobilisierungen und schließlich der Spaltungen staatlicher sowie militärischer Eliten. Harders fasst letztendlich zusammen, dass der Prozess, obwohl "Ägypten [...] eine einzigartige umfassende Mobilisierung, Politisierung und Veränderung der politischen Kultur" (37) erlebte, andauern werde und bisher ergebnisoffen sei. Diese Vermutung lässt sich ein Jahr nach Erscheinen des Buches bestätigen. Interessant sei jedoch zu erwähnen, dass die Mehrheit der Ägypter mit Unterstützung des Militärs als Ordnungsmacht eine weitere Korrektur der Machtverhältnisse vorgenommen hat.
Wolfram Lachers Beitrag (67-84) befasst sich mit der libyschen Revolution, deren Entwicklung als einzige in der Region den vollständigen Zusammenbruch des Regimes zur Folge hatte und dem darauffolgenden Übergangsprozess. Im Kontext dieser und weiterer Ausnahmen untersucht Lacher die Akteure und Faktoren, die die Dynamiken der Proteste sowie der Übergangsperiode bis Mai 2012 beeinflussten. Beim Sturz des Regimes und der Legitimitätskrise des Übergangsrates spielten seiner Meinung nach sowohl der Aufstieg lokaler Machtzentren in Form von Stammesstrukturen, Milizen sowie zivilen und Militärräten eine entscheidende Rolle, als auch die Schwäche der Institutionen. In dieser Hinsicht aufschlussreich sind Lachers Ausführungen über Qaddafis jahrelangen Führungsstil, der einerseits kein Gegengewicht in Form von stabilen Institutionen zuließ und andererseits seine Macht durch die Stärkung der Stammesloyalitäten stützte (69ff.). Diese Art Etablierung seinerseits wurde Qaddafi letztendlich zum Verhängnis und führte nach seinem Sturz zum Auseinanderbrechen jeglicher institutioneller Strukturen. Die westliche Militärintervention hat diese Entwicklung höchstwahrscheinlich beschleunigt. Lacher kommt am Ende seines Beitrags zu dem Ergebnis, Libyen stehe vor der Herausforderung von Grund auf einen neuen Staat aufzubauen, dessen Entwicklung jedoch vor allem durch lokale Machtzentren und nationale politische Kräfte erschwert wird.
In einer weiteren Länderstudie widmen sich André Banks und Erik Mohns (85-106) den syrischen Umbrüchen von März 2011 bis März 2012. Im Vergleich zu den anderen Ländern, in denen sich Proteste ereigneten, herrsche in Syrien nach wie vor eine instabile Pattsituation zwischen Regime und Protestbewegung. Anhand von fünf Leitfragen (86) analysieren die Autoren die extreme Konfliktdynamik, die sich im Laufe der Proteste entwickelt hat. Sie beziehen sowohl strukturelle Ursachen als auch die verschiedenen Konfliktakteure mit ein sowie deren Strategien und Interessen und beleuchten die Auswirkungen externer Vermittlungsversuche. Der Beitrag schließt mit der Ausführung potenzieller Szenarien für die Entwicklung Syriens. Die schlüssigen Folgerungen von Banks und Mohns hinsichtlich der Hauptfaktoren und Konfliktdynamiken sind vor dem Hintergrund der immer noch andauernden und sich weiter verschärfenden Entwicklungen nach wie vor aktuell. Die anfänglichen zivilen, gewaltlosen Proteste gegen das Regime haben sich innerhalb eines Jahres in einen bewaffneten Aufstand mit militärischer Dimension entwickelt, wobei massive Interventionen des Auslandes den Konflikt weiter eskalieren ließen. Der Ausblick, die Uneinigkeit des heterogenen Oppostionsspektrums sowie die zunehmende Anzahl bewaffneter Akteure könnte Syriens politische Transition verhindern und zu einem lokalisierten Bürgerkrieg führen (103f.), ist mittlerweile Realität geworden.
Auch wenn die Ausgangslage sowie der weitere Verlauf der Ereignisse in den einzelnen Länderbeispielen unterschiedlich ist, liefert die Querschnittanalyse von Anja Zorob (229-256) umfassende Erklärungsansätze der arabischen Aufstände unter Einbeziehung sozio-ökonomischer Faktoren. Im Zentrum ihrer Analyse steht der sogenannte "autoritäre Gesellschaftsvertrag", der das Verhältnis zwischen herrschenden Eliten und der Bevölkerung in zahlreichen arabischen Ländern prägt, wobei der Leitgedanke die Garantie ökonomischer Sicherheit seitens des Staates für einen Großteil seiner Bürger im Austausch gegen den Verzicht auf politische Teilhabe ist. Die Autorin thematisiert den Zusammenbruch dieses Phänomens aufgrund zahlreicher politischer, wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen (230f.) in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas, der schließlich zum Ausbruch der Proteste führte. Sie analysiert zudem die ökonomischen Kosten des Widerstands und verweist auf die Relevanz der Ausgestaltung künftiger nationaler Wachstums- und Entwicklungsstrategien, um den wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen begegnen zu können (250). Dabei sollte laut Zorob die Aufgabe internationaler Geber ausschließlich in der Unterstützung der arabischen Länder bei der Umsetzung ihrer eigens entwickelten wirtschaftlichen und sozialen Reformprogramme liegen (251).
Trotz der Komplexität des Themas, der unterschiedlichen Ursachen und Zeitpunkte der Proteste, der verschiedenen Entwicklungen und der größtenteils ungewissen politischen Ausgänge schafft dieser Sammelband einen umfassenden und reichhaltigen Überblick über den "Arabischen Frühling". Die Vielfalt der wissenschaftlichen Perspektiven und methodischen Ansätze ermöglichen nicht nur den von den Herausgeberinnen definierten Zielgruppen einen relativ detaillierten Einstig in die Thematik. Die Beiträge sind auch für Leser_innen außerhalb der erwähnten Fachdisziplinen wissenswert und regen zu weiterführenden Überlegungen an. Angesichts der aktuellen Entwicklungen in den betroffenen arabischen Ländern lassen sich die Analysen und die Vorausschauen bestätigen. Wünschenswert wäre für manche Leser_innen jedoch zu erfahren, wie die Prozesse der letzten Monate in den Analysen ergänzend Beachtung finden würden. Trotz der nachvollziehbaren Begründung der Herausgeberinnen zu der Titelauswahl halte ich die Bezeichnung "Arabellions" für nicht ganz geeignet, da sie mir dem Inhalt des Buches und vor allem der Divergenz der Ereignisse nicht würdig erscheint.
Yasmin El-Menshawy