Susanne Rau: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (= Historische Einführungen; Bd. 14), Frankfurt/M.: Campus 2013, 237 S., ISBN 978-3-593-39847-1, EUR 16,90
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Mit ihrem Handbuch über "Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen" von Räumen - so der Untertitel - verfolgt Susanne Rau das Ziel, eine auf Historikerinnen und Historiker zugeschnittene Einführung in die Thematik "Raum" vorzulegen. Der Einschätzung der Verfasserin, dass die bestehende, häufig anderen Disziplinen entstammende Einführungsliteratur zur Raumproblematik in vielen Aspekten an den Bedürfnissen der Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler vorbeigehe, kann man sich leicht anschließen. Nach fast dreißig Jahren 'spatial turn' ist in den Geschichtswissenschaften die Zeit längst reif für ein Buch, das die Thematik disziplinspezifisch sowohl für erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch für Studierende aufarbeitet. Dieses Verdienst kann der Autorin für ihren Band aus der Reihe der "Historischen Einführungen" des Campus-Verlags uneingeschränkt zugesprochen werden.
Zur "Analyse räumlicher Dimensionen der Gesellschaft" (8), eine Formulierung, die Rau dem Begriff der historischen Raumforschung vorzieht, fordert sie, Räume nicht nur als Orte oder Rahmungen von Ereignissen oder gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten, sondern als Ergebnisse gesellschaftlicher Produktions- und Konstruktionsprozesse (11). Durch eine differenzierte Analyse räumlicher Ordnungen in Verbindung mit der bisher vorherrschenden Untersuchung zeitlicher Verläufe, so die Autorin, könne erst die Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge sichtbar gemacht werden (12).
Um eine solche differenzierte Analyse letztlich leisten zu können, sind - wie der Aufbau der Einführung zeigt - erstens die Geschichte von Raumkonzepten und die Begriffsgeschichte zu beleuchten, zweitens verschiedene Zugänge der eigenen und benachbarter wissenschaftlicher Disziplinen zu betrachten und drittens verschiedene Ansatzpunkte zur Raumanalyse zu bedenken.
In ihrem Abriss der "Geschichte abendländischer Raumkonzepte" (18) führt Rau die Leserschaft vom antiken Griechenland mit den Vorstellungen von Aristoteles und Platon über den Charakter des Raumes hin zum ersten Meilenstein der Raumtheorie in der klassischen Mechanik Isaac Newtons, der den absoluten Raum postulierte (18-21). Diesem stellt sie die Konzepte von Leibniz und Kant sowie schließlich Einstein gegenüber, die alle einen absoluten Raum, verstanden als ein 'Container', ablehnten und den eines relationalen (Leibniz), erkenntnistheoretischen (Kant) oder relativen (Einstein) vorzogen (22-24). Auf diesen grundlegenden Positionen aufbauend skizziert Rau dann die Überlegungen deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im 19. und 20. Jahrhundert. Insbesondere die Wechselwirkungen zwischen Geographie und Geschichte, für die Carl Ritter und Friedrich Ratzel Pate stehen, rücken dabei in den Vordergrund (28-34). Wichtiger aber erscheinen nach der - sehr berechtigten - Einschätzung der Autorin die Überlegungen zum Charakter des Raumes, die im 20. Jahrhundert in Frankreich angestellt wurden. Während die deutschen Raumtheorien durch ihre Anwendung in der Zeit des Nationalsozialismus diskreditiert waren, was einen vorläufigen Abbruch der Diskussion in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nach sich zog, entwickelten sich im Nachbarland konsequente Überlegungen und analytische Instrumentarien, die vor allem mit den Namen Febvre, Braudel und Lefebvre verbunden sind und in der Vorstellung Lefebvres von der sozialen Produktion des Raumes gipfelten (40-47).
Nach der Vorstellung der Konzept, die mit diversen Begriffen operieren, stellt Rau im nachfolgenden Unterkapitel noch einmal klare Begrifflichkeiten vor. Wiederholungen, beispielsweise bei den Überlegungen zum Charakter des Raumes, sind dabei zwangläufig die Folge. Dies mag bei der durchgängigen Lektüre etwas irritieren, eröffnet der Leserschaft aber die Möglichkeit, die Unterkapitel in Auswahl mit Blick auf die eigenen Erkenntnisbedürfnisse zu lesen und sich trotzdem zurechtzufinden.
Auch den Theorien benachbarter Disziplinen - Geographie, Kulturanthropologie und Soziologie - gibt Rau einen verhältnismäßig großen Raum innerhalb des Kapitels. Ohne bei aller nötigen Kompaktheit zu oberflächlich zu werden, stellt sie hier versiert viele verschiedene Konzepte dar, zieht Verbindungslinien und macht immer wieder deren Wert für die Geschichtswissenschaft deutlich. Dabei bringt Rau in angemessener Weise ihre eigenen Überlegungen mit ein und verbindet diese mit dem Appell, die verschiedenen raumbezogenen Erkenntnismodelle der Nachbardisziplinen zu historisieren. So erhält der Leser eine gute Einsicht in bestehende Konzepte und wird gleichzeitig angeregt, sie mit Blick auf die eigene wissenschaftliche Disziplin weiterzuentwickeln.
Im Anschluss gibt Rau Einblick in einige Ansätze zur Raum-Thematik in der Geschichtswissenschaft. Dazu gehört die Einstellung Reinhard Kosellecks zur Rolle des Raums, wie sie in seinem Vortrag auf dem deutschen Historikertag 1986 in Trier zum Ausdruck gekommen war und die von da an die Beschäftigung mit dem Raum als weiterer Kategorie neben der Zeit forcierte. Weitere Historiker in der Auswahl der Autorin sind Karl Schlögel mit seinem Werk "Im Raume lesen wir die Zeit", Michel de Certeau mit seinen Überlegungen zu den räumlichen Praktiken des Alltagslebens oder Jean-Claude Perrot und Bernard Lepetit, die Räume als kulturelle Konstruktionen betrachten. Während die beiden erstgenannten recht bald zu Recht als eigentlich traditionelle 'Zeit'-Historiker entlarvt sind, spricht Rau den Ansätzen der anderen zum Raum zwar eine gewisse Tragfähigkeit im Rahmen des 'spatial turn' zu. Für wirklich innovativ hält sie jedoch, so kann man zwischen den Zeilen lesen, eigentlich nur die Arbeit des Netzwerkes 'Social Sites', einer deutsch-britisch-französischen Forschergruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht habe, die Tragfähigkeit theoretischer Modelle an der Geschichte zu testen (119). Ihr gehört die Autorin selbst an.
Die Auswahl von Ansätzen zur raumtheoretischen Debatte in der Geschichtswissenschaft, die Rau hier aufgreift, ist kritisch zu betrachten, da durchaus die Benennung anderer beziehungsweise weiterer Überlegungen und Personen denkbar gewesen wäre. So entsteht insgesamt der Eindruck, dass die Zahl der Spezialisten, die sich auf ihre eigene Disziplin bezogen fundiert mit der Bedeutung des Raumes auseinandersetzen, - zumal in Deutschland - verschwindend gering sei. Umso stärker greift natürlich der Appell der Autorin an die Zunft, die verschiedenen raumbezogenen Erkenntnismodelle zu historisieren.
An die theoretischen Ausführungen, die insgesamt etwa zwei Drittel des Buches ausmachen, schließt ein methodisches Kapitel an, in dem Rau mögliche Vorgehen bei der Raumanalyse exemplifiziert. Nachdem sie sich dem Thema der Besonderheiten bei der Entwicklung einer Fragestellung und des Absteckens eines Quellenkorpus für raumanalytische Untersuchungen intensiver gewidmet hat (124-133), schlägt sie für die eigentliche Analyse ein Untersuchungsschema in vier Schritten vor. Dieses sollte die Untersuchung von 1) Raumtypen oder Raumformationen, 2) Raumdynamiken, 3) Raumwahrnehmungen und 4) Raumpraktiken und Raumnutzungen beinhalten.
Gerade weil diese Gliederung die Erwartungen auf eine klare Anleitung zum schrittweisen analytischen Vorgehen schürt, enttäuscht das Kapitel in dieser Hinsicht. Raumtheorie zieht eben keine klaren Methoden nach sich (was in der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft der letzten zwanzig Jahre generell eher selten der Fall war), sondern erfordert ein Bündel an Methoden, das es jeweils individuell zu schnüren gilt. Rau trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie eben kein 'Strickmuster' liefert, sondern der Leserschaft die vielfältigen Ansatzpunkte für eine Raumanalyse vor Augen führt. Dabei zeigt sich die hohe Expertise der Autorin nicht nur im Bereich der Theorie, sondern ebenso im praktischen Arbeiten.
Insgesamt merkt man dieser Publikation die jahrelange Auseinandersetzung der Autorin mit dem Forschungsgegenstand des Raumes auf theoretischer wie auf praktischer Ebene deutlich an. Susanne Rau gelingt es, einen Leitfaden für Historikerinnen und Historiker zu entwerfen, der sicher über die verschlungenen Wege des 'spatial turn' führt. Mithilfe von anschaulichen Beispielen macht sie die Materie für Neueinsteiger in die Thematik verständlich, während versiertere Raum-Forscher unter den Historikerinnen und Historikern angeregt werden, ihre Kenntnisse zu vertiefen. Dazu bietet nicht zuletzt die 34-seitige Auswahlbibliographie einen guten Ansatzpunkt.
Vor allen Dingen, und das ist vielleicht das größte Verdienst, schafft das Buch ein Bewusstsein für die räumlichen Dimensionen historischer Umstände, die Historikerinnen und Historiker heute nicht mehr unberücksichtigt lassen sollten.
Daniela Fleiß