Rezension über:

Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 322 S., ISBN 978-3-412-21110-3, EUR 39,90
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Rezension von:
Julian Kümmerle
Staatl. Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien) Esslingen / Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Julian Kümmerle: Rezension von: Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/06/24410.html


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Jörn Rüsen: Historik

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Kennzeichen eines närrischen Menschen sei - so Christoph Martin Wieland in seinem "Aristipp" - die Unfähigkeit, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. [1] Historik hingegen strebe an - so Jörn Rüsen in der nun vorliegenden Neufassung seiner "Theorie der Geschichtswissenschaft" - den Wald vor lauter Bäumen sichtbar zu machen. Nötig sei sie deshalb für diejenigen, die sich "im Wald mit den Bäumen auskennen" wollen. (24) Historik wäre demnach ein verheißungsvolles Unterfangen. Sie könnte eine "Sehhilfe" bei fachspezifischer Aufmerksamkeitsblindheit sein und entscheidend zur Überwindung disziplinärer Fachidiotie beitragen. Allerdings sieht sich eine derart optimistische Geschichtstheorie vielfältigen Ressentiments gegenüber. "Theorie" steht unter dem Generalverdacht der Praxisferne und wird unter eilfertiger Berufung auf den von Kant zitierten "Gemeinspruch" delegitimiert: "Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis". [2] Schlimmer noch: Sie führe letztlich dazu, die Bäume vor lauter Wald nicht mehr zu sehen. Wie kommt aber nun Rüsens Summe seiner geschichtstheoretischen Reflexionen der vergangenen Jahrzehnte innerhalb eines allzu oft durch Misstrauen und Abgrenzungsbestrebungen gekennzeichneten Verhältnisses von Theorie und Praxis bei der Beschäftigung mit Geschichte zur Geltung?

Jörn Rüsen steht als zweifellos profiliertester deutscher Geschichtstheoretiker wie kein anderer für die Breite und Tiefe des historischen Denkens. [3] Er bedenkt "Geschichte überhaupt". (29) Mehr noch ist es aber das eigentliche Verdienst Rüsens, jene Charakteristika des deutenden Umgangs mit der Vergangenheit beschreiben zu wollen, die dessen kulturellen Äußerungen insgesamt zu Grunde liegen. Auch in seiner neuen Historik finden sich dafür eindrucksvolle Belege. Sie reichen von Kant, Droysen und Weber über den südafrikanischen Comicstrip "Vusi goes back" bis hin zu Garfield, den Peanuts und Rudolf Ottos "Das Heilige", einem Werk, das selbst bei Theologen nicht als bekannt vorausgesetzt werden sollte. Scheinbar oder tatsächlich Gegenläufiges und Widersprüchliches wird bei Rüsen integriert, statt ignoriert. Gewissermaßen praktiziert er damit innerhalb seiner Darstellung selbst, was er gegen Ende seines Buches als Konzept zur Zähmung des "Clash of Civilizations" (276) vorschlägt: Gegenpositionen in einer eigentümlichen, für Rüsen ganz typischen Ambivalenz und Komplementarität zu verarbeiten.

In Analogie zur sozialgeschichtlichen Wende der 1970er-Jahre sind es zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorrangig die Anregungen von Seiten der Kulturanthropologie, die es in die Historik aufzunehmen gilt. Bei Rüsen führt dies freilich nicht zu einer radikalen Absage an die geschichtstheoretischen Leistungen des Historismus. Gleichwohl möchte er jenen gegenwärtigen Herausforderungen konstruktiv und integrativ begegnen, welche sich in den Begriffen "Interkulturalität", "Globalisierung", und "Postkolonialismus" verdichten. Dabei gelingt es ihm mit seinem Plädoyer für die disziplinäre Vernunft sowohl Position zu beziehen als auch Möglichkeiten zur Überwindung des Ethnozentrismus auszuloten. Dies scheint allemal intellektuell redlicher als ein kulturalistischer Relativismus, der historische Identität in eine unbegrenzte Vielfalt von gleichberechtigten Ausprägungen diffundieren möchte. Denn dieser läuft in der Tat Gefahr, Geltungsansprüche, die sich mit der Vernunftfähigkeit der historischen Erkenntnis verbinden, zu verramschen.

Es ist dieses für den gedanklichen und sprachlichen Duktus Rüsens so bezeichnende, fast schon scholastische "sic et non", das sich oft bis in die Konstruktion einzelner Sätze niederschlägt. Rüsens "sic et non" wird aber noch durch einen zweiten Sachverhalt verstärkt. Er greift auf Bewährtes aus seinen Überlegungen zurück, die er bereits in den 1980er-Jahren vorgetragen hat. Diese werden um neue Überlegungen ergänzt, wo er auf eigene spätere Arbeiten zurückgreifen kann bzw. muss. Dieser nicht gerade bescheidene "Doppelpass mit sich selbst" verschafft dem Leser einleitend Klarheit darüber, was er zu erwarten hat und was nicht: Geboten wird immer Rüsens Historik. Deren Verständnis erschließt sich daher vor allem jenen, die sich aufmachen, den verbindlichen Weg von den "Grundlagen des historischen Denkens" (II) über "Geschichte als Wissenschaft" (III), "Systematik" (Kategorien, Theorien, Begriffe; IV), "Methodik" (V), "Topik" (Formen und Prozesse der Geschichtsschreibung; VI), "Die Grundlagen der Geschichtskultur" (VII) hin zur "Praktischen Geschichte" (VII) mit zu gehen. Bei aller Abstraktion und Komplexität wird die Nachvollziehbarkeit des Textes durch zahlreiche Grafiken, Tabellen sowie die eindrücklichen Illustrationen von Dan Perjovschi unterstützt.

Skeptischer zu beurteilen sind manche Ausführungen im Kapitel "Praktische Geschichte" (VIII). Schon dessen merkwürdig asyndetische Überschrift "Lernen, Verstehen, Humanität" wirft Fragen auf. Spekulativ wird es geradezu, wenn Rüsen am Beispiel der "Schatten negativer historischer Erfahrungen" vorschlägt, diese in das eigene Selbstbild zu integrieren. So lasse sich "die Asymmetrie des ethnozentrischen Verhältnisses zwischen Selbst und Anderen [sic!] in eine Balance" transformieren. (278) Mag sein, dass das funktioniert, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls kann bezweifelt werden, ob durch solche psychologisierenden Ratschläge nicht der sichere Grund einer "Theorie der Geschichtswissenschaft" verlassen wird. Auffällig sind zudem Zwischenüberschriften wie etwa "Den Menschen menschlich machen" oder das inzwischen doch recht strapazierte "Auf Augenhöhe miteinander kritisch umgehen". (272ff) Das klingt vielmehr nach wohlmeinenden pädagogischen Appellen, die - wie Rüsen eingesteht - zu schön sind, um wahr zu sein. Wenn solche Appelle aber wahr und eben gerade nicht zu inflationären Floskeln werden sollen, ist die Sache so einfach nicht.

Angesichts der wiedergängerartigen Attraktivität instruktional-affirmativer Erziehungs- und Lernvorstellungen in der gegenwärtigen Bildungspolitik stellt sich die Frage, wie solche optimistischen Forderungen in der Praxis des Geschichtsunterrichts rezipiert werden könnten. Sollen Bildungsprozesse nicht zu einem opportunistischen Nachplappern gesellschaftlich oder politisch erwünschter Phrasen und gefühlig verbrämter geschichtspolitischer Manipulation verkommen, wäre etwa bei einer curricularen Umsetzung der "Praktischen Geschichte" präzise darauf zu achten, dass am Ende nicht genau das herauskommt, was Gerrit Walther in diesem Zusammenhang bereits 2003 zurückgewiesen hat: eine Art "Zeitgeschichte ohne konkreten Inhalt, aber von entschiedener Tendenz". [4] Rüsen sieht natürlich das Dilemma, welches jeder naiven Werteerziehung im Geschichtsunterricht, zumal einer politischen und/oder moralischen Funktionalisierung der Geschichte im Prokrustesbett der Gegenwart, widerspricht. Historik habe nämlich den historischen Eigensinn der Vergangenheit gegen die normativen Grundlagen der gegenwärtigen Kultur zu verteidigen, ohne diese Grundlagen jedoch ernsthaft infrage zu stellen. (263)

Gleichwohl kann ein Auslöser für den möglichen Praxisschock von Rüsens "Praktischer Geschichte" im Konzept der genetischen Sinnbildung gesehen werden. Dieses wird sowohl innerhalb der "Topik" (212) als auch innerhalb der "Praktischen Geschichte" thematisch. Dort wird die genetische Sinnbildung in einer Rudiment bleibenden "Entwicklungstheorie historischer Kompetenz" als die allein dem spezifisch modernen Denken gerecht werdende Deutungsform erwähnt. (261) Bei allen Versuchen, dieses "Kompetenzniveau" in die Unterrichtspraxis zu überführen, müsste freilich präzise darauf geachtet werden, dass nicht eben jenes Phänomen durch die Hintertür ins Klassenzimmer eintritt, gegen welches sich Rüsen an anderer Stelle entschieden ausspricht: ein moralisch aufgeladener, teleologischer Perspektivierungszwang. (274) Am Ende dieses nicht gerade weiten Weges von der genetischen Sinnbildung zur Gesinnung stünde aber nicht nur das Gegenteil von dem, was Rüsen offenkundig will, sondern auch ein "Geschichtsunterricht", der auf einer Hermeneutik der Ich-Bezogenheit basieren und sich vorrangig auf das Erzeugen von Kollektivemotionen konzentrieren würde. Dafür benötigt es aber keine Geschichte mehr - jedenfalls keine, die sich an wissenschaftlichen Standards orientiert.

Jörn Rüsen hat mit seiner neuen Historik eine ungemein anregende Monographie vorgelegt, die zugleich Zustimmung und Widerspruch hervorruft. Auch in Zukunft wird daher gelten, was rückblickend in der Rezeption von Rüsens Ansatz zu beobachten ist: die Berufung auf ihn in sehr unterschiedlichen, bisweilen konträren Kontexten. Seine Arbeit könnte zudem den entscheidenden Beitrag leisten, um künftig theoretische Reflexionsarbeit und praktische Anwendung enger aufeinander zu beziehen, statt diese gegeneinander auszuspielen. Wenn jüngst wieder von Seiten der Schulpraxis moniert wurde, theoretische Entwürfe hätten "immer etwas Ausschließendes an sich" und seien "von begrenzter Wirksamkeit für die tägliche Praxis" [5], so beweist Rüsens Historik durch ihre Kommunikationsfähigkeit und intendierte Praktikabilität das Gegenteil. Am Ende bleibt zu hoffen, dass das Nachdenken über Geschichte, zu welchem Rüsens Historik ohne Zweifel den zur Zeit wichtigsten Stimulus bildet, dazu beitragen möge - ganz im Sinne Wielands - Narretei bei der Beschäftigung mit Geschichte zu kurieren.


Anmerkungen:

[1] Christoph Martin Wieland, Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, hrsg. v. Heinrich Pröhle, Frankfurt a. M. 1984, S. 667.

[2] Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, hrsg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 1992.

[3] Vgl. dazu: Jörn Rüsen, Grundzüge einer Historik, 3 Bände., Göttingen 1983-89. Auch dort findet sich bereits das Bild vom Wald und den Bäumen.

[4] Gerrit Walther zu Jörn Rüsen "Kann gestern besser werden?": http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/vorwaerts-in-die-vergangenheit-1106002.html

[5] http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/2-2014-5/abschied-vom-geschichtsbewusstsein/#comment-284

Julian Kümmerle