Hans Georg Hiller von Gaertringen: Schnörkellos. Die Umgestaltung von Bauten des Historismus im Berlin des 20. Jahrhunderts (= Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin; Beiheft 35), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2012, 495 S., ISBN 978-3-7861-2650-8, EUR 69,00
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Viele der Wohnhäuser aus der Gründerzeit, die den Krieg und die teils willkürlichen Abrissmaßnahmen der Nachkriegszeit in Ost- und West-Berlin überstanden haben, lassen die ursprüngliche, reiche Fassadendekorierung allenfalls noch erahnen. Stattdessen prägen ihre glatten und ihres Schmucks beraubten Fassaden heute das Berliner Straßenbild. Der Verlust an originalem Baudekor ist von seinem Umfang her so gewaltig, dass man spontan einen geradezu rasenden Furor dahinter vermuten mag. Und gern wird - auch von Architekturkritikern und Feuilletonisten - die Legende vom "Entstuckungsprogramm" kolportiert, dass der Berliner Senat bis in die 1980er-Jahre sogenannte "Entstuckungsprämien" an die Hauseigentümer gezahlt habe [1], eine Geschichte, die gut zum Bild der vernichtungswütigen Nachkriegsbauverwaltung mit ihren Flächenabrissen und Kahlschlagsanierungen passt. Tatsächlich gab es diese zentrale Steuerung nicht, und die Kausalitäten sind ungleich komplexer, wie die Arbeit Hiller von Gaertringens anschaulich darlegt. Das Ergebnis seiner über zehnjährigen Forschungsarbeit (zugleich Dissertation HU Berlin 2009) verblüfft - und zeigt, dass die Geschichte der Entstuckung oder "Entdekorierung", wie Hiller von Gaertringen sie in Anlehnung an Günther Grundmann [2] zutreffend nennt, differenzierter zu betrachten ist und deutlich mehr Facetten besitzt, als viele Autoren behaupten. Warum diese Fassaden - im Wesentlichen zwischen 1920 und 1980 - ihrer Ornamente beraubt wurden, wer dahinter stand, und welche neuen Formen damit geschaffen wurden, diesen Fragen geht dieses Buch nach.
Bereits die Einleitung präsentiert dem Leser ein Bündel von nahe liegenden, offenen Fragen, die ihn neugierig machen und gleichsam in das Buch hineinziehen. Dieses Fragengerüst wie auch die Tatsache, dass das Werk durchweg gut lesbar geschrieben ist, machen die Lektüre zu einer spannenden Entdeckungsreise.
Das Bewusstsein für die ursprüngliche Vielfalt an Detailformen des 19. Jahrhunderts und ihre Funktion, die der Autor in Kapitel II in Ansätzen beschreibt, ist uns weitgehend verloren gegangen. Waren in Berlin die dekorierten Putzfassaden vorherrschend, so wurden die deutlich selteneren Natursteinfassaden meist kein Opfer der Entdekorierung, sei es, dass ihre Herstellung teurer war, sei es, dass sie als haltbarer galten (50). Auch der von Karl Friedrich Schinkel propagierte plastische Bauschmuck in Zinkguss überlebte häufiger, während Schmuckelemente aus Gusseisen wie etwa Balkongitter schon wegen ihres Materialwerts meist eingeschmolzen wurden. Ein beliebtes Opfer von Entdekorierungsaktionen waren schließlich die wegen ihrer Funktionslosigkeit oft als "Hypothekentürmchen" verspotteten Aufbauten auf Eckhäusern (62). Dass sich Häuser mit reich dekorierter Fassade besser und teurer vermieten lassen, liegt auf der Hand. Weniger bekannt dürfte die damalige Wertsteigerung einer Immobilie durch ihren Fassadenschmuck sein: Machte eine aufwändige Fassadendekoration lediglich etwa 2 % der gesamten Baukosten aus, so steigerte sie mitunter den Versicherungswert bei der Feuerkasse und damit auch einen möglichen Beleihungswert der Immobilie um bis zu 20 % (66/67).
Hiller von Gaertringen weist nach (Kapitel III), dass die Kritik am historistischen Baudekor bereits zwischen 1877 und 1900 einsetzte und nicht erst - wie oft irrtümlich angenommen - mit Adolf Loos' Essay "Ornament und Verbrechen" von 1908, der zudem meist falsch als "Ornament ist Verbrechen" rezipiert wird. Warum aber begann die systematische Entdekorierung dann trotzdem erst 1920? Die Entdekorierung der 1920er-Jahre war auch der wirtschaftlichen Lage geschuldet, weil es weder ausreichend Platz noch Geld für Neubauten gab (158). Da es unmöglich war, die Utopien umzusetzen und die Stadt des 19. Jahrhunderts durch die Neubebauungen zu ersetzen, konnten die Architekten die architektonischen Formeln der Moderne wie unverzierte glatte Flächen und rechte Winkel nur mit ästhetischen Korrekturmaßnahmen erfüllen, die häufig allein in der Vernichtung des bestehenden Fassadenschmucks mündeten. Damit wird - so eine der zentralen Thesen Hiller von Gaertringens - die Entdekorierung zu einem wesentlichen Beitrag der Moderne am Berliner Stadtbild. Als Ergebnis entstanden Hybride, die äußerlich in Ansätzen der Moderne zu huldigen schienen, den inneren Kern des 19. Jahrhunderts aber unangetastet ließen. Von Berlin ausgehend wurde die Idee eines dekorlosen Stadtbilds über die wichtigen Architekturzeitschriften verbreitet. Offen bleibt indes auch bei Hiller von Gaertringen, ob bei der Entfernung des Stucks der Anspruch an eine ästhetische Neugestaltung im Vordergrund stand oder ob seine Vernichtung eine symbolische Abrechnung mit der wilhelminischen Gesellschaftsordnung war.
Während in den 1920er-Jahren zumeist Geschäftshäuser entdekoriert wurden, wobei der hohe Anspruch an die Neugestaltung der Fassaden auffällt, traf die Entdekorierung nach 1945 schwerpunktmäßig Wohnhäuser. Die Abschlagung des Dekors, die Beseitigung von Turmaufbauten oder die Begradigung des Umrisses sollten die Epoche der Kaiserzeit, auch als vermeintlich historischen Vorläufer des "Dritten Reichs", in Vergessenheit bringen. Nur auf den ersten Blick verwundert in diesem Zusammenhang die Behauptung Hiller von Gaertringens, dass durch die massenweise Entdekorierung rund 1.400 Gründerzeithäuser in Berlin-Kreuzberg in den 1950er- und 1960er-Jahren vor der Zerstörung durch den Irrsinn der Berliner Sanierungs- und Kahlschlagpolitik gerettet werden konnten. Vielmehr konnten die Eigentümer mit dem veränderten Erscheinungsbild ihrer mit Rauputz oder Verblendung durch Baukeramik umgestalteten Altbauten nachweisen, dass diese damit durchaus äußerlich mit Neubauten konkurrieren konnten und die vom Senat geforderte "Modernisierung" auch anders umgesetzt werden konnte (237f.). Die populäre Legende der staatlichen Subventionierung der Fassadenbereinigung führt Hiller von Gaertringen auf eine missverstandene Passage in Wolf Jobst Siedlers berühmten Buch "Die gemordete Stadt" von 1964 zurück [3], die dieser später sogar selbst für zutreffend hielt (233).
Im zweiten Teil des Buches führt Hiller von Gaertringen über 200 entdekorierte Bauten und Fassadenneugestaltungen sowie nicht umgesetzte Entwürfe aus den Jahren 1915-1943 in chronologischer Reihenfolge auf. Für die Zeit nach 1945 konstatiert Hiller von Gaertringen, dass die Fassadengestaltungen stereotyp ausfallen, sodass nur eine quantitative Erfassung lohne. Da viele Fassadenumgestaltungen nicht publiziert wurden, bleibt diese Liste, das Ergebnis seiner Auswertung von Architektur-, Heimatschutz- und Denkmalzeitschriften, sowie der Stadtarchive von Berlin, Halle und Stralsund, zwangsläufig lückenhaft. Unklar bleibt allerdings die Beschränkung der Untersuchung auf die Städte Berlin, Halle und Stralsund. So hätte man gern gewusst, warum die systematische Entdekorierung scheinbar ein Phänomen im Osten Deutschlands blieb, während Gründerzeitbauten in Westdeutschland hiervon weitgehend verschont blieben.
Gegen Ende des ersten Teils geraten leider die Bildlegenden durcheinander. So zeigt nicht Abbildung 108, sondern Abbildung 107 ein teilweise entdekoriertes Haus in der Templiner Straße, Abbildung 110 das Haus Christinenstraße 32 und nicht das in der Oderbergerstraße 34, was korrekterweise Abbildung 108 wäre (299-302). Auch hätte man sich eine bessere Bildbearbeitung gewünscht, da die Abbildungen häufig viel zu grau und dunkel ausfallen und nur wenige Details erkennen lassen. Bedauerlich ist schließlich, dass im Katalog der entdekorierten Bauten von 1915-1943 Verweise fehlen, wo diese im ersten Teil des Buches behandelt werden, sodass man sich den Zugang mühsam über das Register und die Architektennamen erschließen muss.
Das kann den Verdienst des vorliegenden Buchs nicht mindern: Es ist das erste, das sich eingehend mit dem Phänomen der Entstuckung, seiner dogmatischen Herleitung und schließlich seiner Historisierung beschäftigt. Es ist zu hoffen, dass es den Anstoß für überfällige weitere Untersuchungen gibt, insbesondere zu der nur in Ansätzen erforschten "Purifizierung" von Kirchen, Schlössern und öffentlichen Repräsentationsbauten oder zu einer bisher fehlenden Geschichte des Baudekors am Berliner Mietshaus.
Anmerkungen:
[1] Philipp Oswalt: Berlin. Stadt ohne Form, München 2000, 53; Axel Gutzeit: Die Fassade. Berlin 1984, 15; Florian Illies: Generation Golf, Berlin 2000, 117.
[2] Günther Grundmann: Wiederaufbau oder Neubau? Vortrag 1953, in: Kunst und Kirche 20 (1957), Nr. 4, 154ff.
[3] Wolf Jobst Siedler / Elisabeth Niggemeyer: Die gemordete Stadt, München 1964.
Lucas Elmenhorst