Christoph Marx: Südafrika. Geschichte und Gegenwart, Stuttgart: W. Kohlhammer 2012, 325 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-17-021146-9, EUR 29,90
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Das Buch will "einprägsam und eingängig grundlegende Informationen zur Geschichte des Landes bis in die unmittelbare Gegenwart" vermitteln. Jedenfalls verspricht dies der Buchrücken. Eine Einleitung, in der der Autor die Hauptziele und -thesen des Buches vorstellt, fehlt. Dies wäre äußerst sinnvoll, um den folgenden 13 Kapiteln und der gesamten Untersuchung einen Rahmen zu geben und zentrale Aspekte zu betonen. Stattdessen beginnt das Buch unvermittelt mit einer kurzen Erklärung zur "verwendeten Terminologie". So ist nicht ganz klar, was mit dem Buch beabsichtigt ist und an wen es sich richtet. Ich habe es als Überblickswerk gelesen, das deutschsprachigen Laien, Studierenden und Interessierten, die keine Südafrika-Kenner sind, einen Einstieg in Entstehung und Entwicklung von Südafrikas Gesellschaft und Politik bieten soll.
Die Untersuchung der Geschichte Südafrikas geht streng chronologisch vor und beginnt in der Frühzeit, führt weiter über die Zeit der Vereinigten Ostindischen Kompanie, die Kolonie- und Republikgründungen sowie die Apartheid bis zum Übergang zur Demokratie (diese Phase endete dem Autor zufolge erst 2008 mit dem von der Regierungspartei ANC erzwungenem Rücktritt ("Sturz") von Südafrikas zweitem demokratisch gewählten Präsidenten Thabo Mbeki). Die aktuelle politische Situation des Landes unter Präsident Zuma wird in einem abschließenden, lediglich acht Seiten langen "Ausblick" behandelt. Am Ende wäre ein abschließendes Gesamtfazit zur Orientierung hilfreich gewesen. Stattdessen endet das Buch mit einem allgemeinen Abschnitt, der im Hinblick auf Südafrikas Vorbildfunktion feststellt, dass "Afrikas Zukunft [...] eher in der internationalen Vermarktung seiner reichen Kultur als in einer nachgeholten Industrialisierung [liegt]. Afrikanischem Jazz dürfte eine hellere Zukunft winken als einer afrikanischen Autoindustrie oder afrikanischem Stahl. Im Zeitalter der Wissens- und Kommunikationsgesellschaft hat Südafrika große Möglichkeiten, sofern kein neuer kulturnationalistischer Dogmatismus und eine Zensurmentalität sie zunichtemachen". (315) Das ist ein verwirrender und unbefriedigender Abschluss.
Die Entwicklung Südafrikas bis zur Gründung der Union im Jahr 1910 (ab 176), das heißt der Vereinigung vorher eigenständiger Kolonien und Gebiete, nimmt etwas mehr als die Hälfte des Buchs ein. Es wird deutlich, dass die Besiedelung Südafrikas und die Bildung eines Staatswesens eben nicht nur durch kriegerische Auseinandersetzungen von weißen Kolonialbeamten, Truppen und Siedlern auf der einen Seite und afrikanischen Gruppen wie den Xhosa und Zulu auf der anderen Seite geprägt, sondern dass die Konflikte zwischen und innerhalb der verschiedenen weißen Bevölkerungsgruppen ebenfalls groß waren. Der viel zitierte Gegensatz zwischen niederländisch-stämmigen Buren und aus England stammenden Einwanderern war dabei nur ein übergreifender Konflikt.
Jedoch geht bei den zahlreichen Schlachten und beteiligten Personen der Überblick verloren. Die übergeordneten Zusammenhänge werden nicht immer klar. So erfahre ich, dass sich Louis Botha im Burenkrieg als "herausragender Stratege" (164) erwies, weiß aber an dieser Stelle wenig darüber, welche Bedeutung die südafrikanischen Kolonien damals tatsächlich für das britische Empire hatten. Insgesamt wären eine stärkere Heraushebung von entscheidenden Wegmarken (critical junctures) auf dem konfliktreichen Weg der südafrikanischen Staatswerdung und vor allem einige zentrale Thesen äußerst hilfreich für das Verständnis gewesen - dies gerade vor dem Hintergrund, dass es unterschiedliche und kontrovers diskutierte analytische Zugänge zur Geschichte Südafrikas gibt. Zudem soll das Buch ja einen leicht zugänglichen Überblick bieten. Ein Glossar wäre dafür ebenfalls sinnvoll.
Im weiteren Verlauf werden die Faktoren und Personen, die für die Einführung des offiziellen Systems der Rassentrennung, der Apartheid, entscheidend waren, dargestellt. Die Einteilung der verschiedenen Phasen der Apartheid ist nachvollziehbar, auch wenn man darüber streiten kann, ob die Apartheid tatsächlich bereits ab 1966 "in der Defensive" war (laut Autor dauerte diese Phase von 1966 bis 1989). Bemerkenswert ist die kursorische Erwähnung des Sharpeville-Massakers im Jahr 1960 und des Rivonia-Prozesses im Jahr 1963 (241 f.), in dem die führenden ANC-Führer, auch Nelson Mandela, zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden. Dies war "ein Wendepunkt" (242), dessen weitere Bedeutung kaum analysiert wird.
Auffällig ist im Gegensatz dazu, wie einseitig kritisch die Regierungszeit der ehemaligen Befreiungsbewegung ANC seit dem Ende der Apartheid 1994 und vor allem dem Rücktritt von Präsident Thabo Mbeki bewertet wird. Leider versäumt es der Verfasser, die zweifellos vorhandenen Defizite, enttäuschten Erwartungen und Fehlleistungen ins Verhältnis zu strukturellen Bedingungen, "normalen" innerparteilichen Auseinandersetzungen, und ebenfalls erzielten Erfolgen zu setzen. Der Autor diagnostiziert "Kumpanei mit alteingesessenen Machteliten" Afrikas (295) (dabei unterlaufen ihm Fehler; die Afrikanische Union hat ihren Sitz nicht in Südafrika, sondern in Addis Abeba, Äthiopien (296)) und präsentiert Mbeki als den Bösen der südafrikanischen Politik; "wie eine Demokratie funktioniert, [...] blieb ihm weitgehend fremd". (303) Zu Julius Malema, dem umstrittenen Populisten und Präsidenten der ANC Youth League von 2008 bis 2012 und heutigen Anführer der von ihm gegründeten Economic Freedom Fighters, heißt es: "Malemas Mischung aus Dummheit, Provinzialismus und Brutalität ließ in ihm einen hoffnungsvollen Anwärter auf die Nachfolge Idi Amins erwarten." (312; sic!). Das wirkt eher wie eine Abrechnung denn eine Analyse, die dem Phänomen und den Enttäuschungen, die Malema - wenn auch auf unverantwortliche Weise - artikuliert, gerecht wird. So bleiben entscheidende Dynamiken im heutigen Südafrika im Dunkeln und die Kontinuitäten zur Zeit der Apartheid werden über die Maßen betont.
Insgesamt erwarte ich in einem einführenden Überblickswerk eine stärkere Strukturierung und Einordnung. Eine Einleitung und ein Fazit sind dafür hilfreich. Ein Glossar erleichtert zusätzlich die Orientierung, die Nennung von Nachweisen im Text die Anbindung an existierende Literatur. Das alles aber fehlt in dem Buch von Marx. Für das Verständnis der aktuellen politischen Diskussionen und Konflikte in Südafrika empfehle ich die - durchaus kritischen - substantiellen Analysen von Jeremy Seekings, Nicoli Nattrass, Tom Lodge, Hein Marais und - zum ehemaligen Präsidenten Thabo Mbeki - von William Gumede.
Christian von Soest