Wilfried Loth / Marc Hanisch (Hgg.): Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients, München: Oldenbourg 2014, 215 S., ISBN 978-3-486-75570-1, EUR 39,95
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2014 erinnert man sich natürlich besonders intensiv an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. 100 Jahre ist es her, als am 28. Juni 1914 der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau von einem bosnischen Serben namens Gavrilo Princip in Sarajevo ermordet wurden und damit einen Prozess in Gang setzten, der dann in die "Urkatastrophe" (George Kennan) des 20. Jahrhunderts mündete. Vor allem die Julikrise und die damit verbundene Kriegsschuldfrage hat zuletzt eine Reihe gewichtiger Bücher hervorgebracht. Erwähnt seien nur Sean McMeekins "The Russian Origins of the First World War" (Cambridge, MA 2013), Christopher Clarks "The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914" (London 2013), Herfried Münklers "Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918" (Berlin 2013), Gerd Krumeichs "Juli 1914. Eine Bilanz" (Stuttgart 2013) oder Jörn Leonhards "Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges" (München 2014). Alle Autoren setzen sich mit den Thesen auseinander, die der Hamburger Historiker Fritz Fischer in den 1960ern in seinen beiden Werken "Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands, 1914/18" (Düsseldorf 1961) und "Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911-1914" (Düsseldorf 1969) aufgestellt hatte. Sah Fischer noch die Hauptschuld in Berlin, so mehren sich nun Stimmen, die dieses Urteil zumindest abmildern wollen. Beispielsweise geriet St. Petersburg in den Fokus (McMeekin). Clark hingegen vertritt letzten Endes die Meinung, dass die Großmächte mehr oder minder in Trance in den Krieg "hineingeschlittert" seien. Dem stehen die Befunde von Jörn Leonhard gegenüber, der mit vielen guten Argumenten nachweisen kann, dass alle fünf maßgeblich beteiligten Staaten offenen Auges und ganz bewusst Schlüsselentscheidungen getroffen haben, deren Konsequenzen allerdings aus der Zeit heraus kaum abzusehen waren. Interessanterweise hatte Fischer seinerzeit unter anderem die Orientpolitik des Deutschen Reiches, die darauf hinauslief, gezielt muslimische Aufstände gegen Russland und Großbritannien zu schüren, als Zeichen der bewussten Kalkulation eines überregionalen Krieges gesehen.
In Istanbul hatte sich die Hohe Pforte zunächst neutral verhalten, doch sah man sich angesichts der massiven Interessen aller Großmächte an den geostrategisch wichtigen Gebieten rund um das Osmanische Reich (Dardanellen, Balkan, Naher Osten, Armenien, Nordafrika) bald gezwungen, Partei zu ergreifen. Mit dem Deutschen Reich bestand eine enge militärische und politische Zusammenarbeit, doch pflegten die Osmanen auch zur Triple Entente sehr gute wirtschaftliche Beziehungen. Schließlich konnte der Kriegsminister Enver Paşa (1881-1922) im August 1914 gegen einigen Widerstand im Parlament ein Bündnis mit den Mittelmächten durchsetzen, was dann im Herbst 1914 zum offiziellen Kriegseintritt des Osmanischen Reiches führte. Ganz bewusst erfolgte dann am 11. November die offizielle Proklamation des "Heiligen Krieges" gegen Russland, Großbritannien und Frankreich durch den Scheichülislam Ürgüplü Mustafa Hayri Efendi (1867-1921). Zwar war das Osmanische Reich ein muslimischer Staat, so dass ein Dschihad nicht gänzlich abwegig erscheint, doch stand hinter diesem Aufruf die Idee des deutschen Diplomaten, Archäologen und Orientalisten Max von Oppenheim (1860-1946), unter den Muslimen in den Kolonialgebieten Rebellionen zu entfachen. Auf diese Weise wollte man Kräfte der Kriegsgegner binden und deren Vormachtstellung in den jeweiligen Regionen unterminieren.
Vor diesem Hintergrund übertrug die deutsche Seite im Laufe des Ersten Weltkrieges gezielt Einzelpersonen durchaus heikle militärische Missionen in Afghanistan, Irak, Iran, im Kaukasus und in Nordafrika. Der vorliegende Sammelband, der an dem von Wilfried Loth geleiteten Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Duisburg-Essen entstanden ist, bietet uns hochinteressante Biogramme einzelner solcher Akteure, wobei es sich sowohl um die Vordenker der Aktionen wie auch um die Leute vor Ort handelt. Nach dem genannten Max von Oppenheim (Marc Hanisch: Max Freiherr von Oppenheim und die Revolutionierung der islamischen Welt als anti-imperiale Befreiung von oben, 13-38), der mit seinen Denkschriften eher den theoretischen und strategischen Boden für den Einsatz bereitete, steht Colmar Freiherr von der Goltz (1848-1916) im Mittelpunkt eines weiteren Beitrages (Bernd Lemke: Globaler Krieg: Die Aufstands- und Eroberungspläne des Colmar von der Goltz für den Mittleren Osten und Indien, 39-60). Goltz gehört neben Otto Liman von Sanders (1855-1929) und Erich von Falkenhayn (1861-1922) zu den deutschen Militärs, die zwischen 1914 und 1918 zeitweise als Oberbefehlshaber über osmanische Armeen fungierten. Seine Aufgabe bestand zuletzt darin, türkische und deutsche Operationen in Persien zu koordinieren und eine Erhebung persischer Oppositionstruppen zu unterstützen.
Eine weitere wichtige Figur in diesem Strategiespiel war der Diplomat Rudolf Nadolny (1873-1953), der im Auftrag des Auswärtigen Amtes von Kermanschah aus eine unabhängige persische Regierung zu unterstützen und den Widerstand gegen die russischen und britischen Besatzungstruppen zusammenzubinden hatte (Michael Jonas/Jan Zinke: "Wir standen mit der Zukunft im Bunde". Rudolf Nadolny, das Auswärtige Amt und die deutsche Persienpolitik im Ersten Weltkrieg, 61-90). Nadolny finanzierte unter anderem auch die Gruppe von Wilhelm Waßmuß (1880-1931), der als Vizekonsul in Buschehr vom Persischen Golf aus einige lokale Führer mobilisieren konnte, um gegen die Briten zu kämpfen (Stefan M. Kreutzer: Wilhelm Waßmuß - Ein deutscher Lawrence, 91-118).
Ebenfalls in dieser Region tätig war der preußische Hauptmann Fritz Klein. Ihm gelang es tatsächlich, schiitische Würdenträger in Kerbela für die Ausrufung des Dschihads an der Seite Deutschlands zu gewinnen. Im Bündnis mit iranischen Stämmen führte er etwa anderthalb Jahre einen erfolgreichen Kleinkrieg gegen weit überlegene britische und russische Kräfte, wobei ihm sogar die Sprengung der englischen Ölleitungen in Südpersien glückte (Veit Veltzke: "Heiliger Krieg" - "Scheinheiliger Krieg": Hauptmann Fritz Klein und seine Expedition in den Irak und nach Persien 1914-1916, 119-144). Martin Kröger widmet sich dann in seinem Beitrag einer Expedition in den Kaukasus, wo unter der Leitung des Öl-Experten Paul Schwarz die russische Erdölleitung zwischen Batum und Baku gesprengt und ebenfalls ein muslimischer Aufstand angezettelt werden sollte (Martin Kröger: Im wilden Kurdistan - Die militärische Expedition in der Osttürkei 1914-1916, 145-166). Da Paul Schwarz recht glücklos agierte, übernahm die Mission sein Stellvertreter Max von Scheubner-Richter, ein Kriegsfreiwilliger baltischer Herkunft.
Der Band schließt mit zwei Artikeln, die sich mit den Aktivitäten des Arabisten und Diplomaten Curt Max Prüfer (1881-1959) und den Umtrieben des österreichisch-ungarischen Militärbevollmächtigten im Osmanischen Reich Joseph Pomiankowski (1866-1929) befassen (Marc Hanisch: "Curt Prüfer - Orientalist, Dragoman und Oppenheims "man on the spot", 167-192 bzw. Alexander Will: Der Gegenspieler im Hintergrund: Josef Pomiankowski und die antideutsche Orientpolitik Österreich-Ungarns 1914-1918, 193-214). Prüfer, der mit Oppenheim in Ägypten zusammenarbeitete, verfolgte das Ziel, ein Netzwerk für eine anti-britische Opposition in Ägypten aufzubauen. Darüber hinaus war er an der Vorbereitung des ersten deutsch-osmanischen Vorstoßes gegen britische Posten am Suez-Kanal beteiligt.
Das von Wilfried Loth und Marc Hanisch herausgegebene Werk gibt uns einen hervorragenden Einblick in die Lebensläufe und Missionen von neun Schlüsselfiguren in dem in Deutschland entworfenen militärstrategischen Plan, islamische Gruppen in den britischen und russischen Kolonialgebieten zu Revolten zu bewegen. Das Niveau der einzelnen Beiträge ist durchweg sehr hoch, zumal viele der Autoren zu dem Thema bereits lesenswerte Monographien verfasst haben: Bernd Lemke: Der Irak und Arabien aus Sicht deutscher Kriegsteilnehmer und Orientreisender 1918 bis 1945: Aufstandsfantasien, Kriegserfahrungen, Zukunftshoffnungen, Enttäuschungen, Distanz (Frankfurt am Main 2012), Alexander Will: Kein Griff nach der Weltmacht. Geheime Dienste und Propaganda im deutschösterreichisch-türkischen Bündnis 1914-1918 (Köln 2012) und Stefan M. Kreutzer: Dschihad für den deutschen Kaiser. Max von Oppenheim und die Neuordnung des Orients (1914-1918) (Graz 2012). Marc Hanisch sitzt darüber hinaus an seiner Dissertation zum Thema "Mensch - Politik - Raum. Die Konstituierung, Institutionalisierung und Reproduktion des außenpolitischen Orient in der deutschen Nahostpolitik". Alles in bester Ergänzung zu dem hier besprochenen Werk sehr lesenswert!
Stephan Conermann