Martin Espenhorst (Hg.): Unwissen und Missverständnisse im vormodernen Friedensprozess (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Beiheft 94), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 270 S., 7 Abb., ISBN 978-3-525-10127-8, EUR 49,99
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Sich auf das 'Meer des Nichtwissens' zu begeben, wie Robert Proctor und Londa Schiebinger in ihrem einflussreichen Sammelband "Agnotology" [1] fordern, das mag auf den ersten Blick eine ungewohnte Perspektive auf den "vormodernen Friedensprozess" sein, mit der sich der von Martin Espenhorst herausgegebene Sammelband beschäftigt. Sehr viel eher neigen wir dazu, bei der 'Kunst des Friedensschließens' [2] die Etablierung und Professionalisierung des - idealiter umfassend informierten, 'wissenden' - frühneuzeitlichen Diplomatenstandes herauszustellen, als über die Bedeutung von und den zeitgenössischen Umgang mit "Missverständnissen" oder "Unwissen" zu reflektieren.
Die Beiträge des Bandes, die größtenteils auf eine Tagung im Jahr 2012 zurückgehen, verorten sich im Feld neuerer akteurszentrierter, kultur- und wissensgeschichtlich orientierter Zugänge zur Erforschung der Mächtepolitik und jüngerer, insbesondere kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektiven auf Ignoranz/Nichtwissen/Unwissen, die bislang in der geschichtswissenschaftlichen Forschung noch verhältnismäßig wenig Berücksichtigung fanden. [3] Vom ersten Beitrag an eröffnen sie zwei grundlegende Perspektiven auf die möglichen Konsequenzen unbeabsichtigten oder gezielten Nichtwissens: auf seine behindernde, ja destruktive Wirkung ebenso wie auf vorteilhafte Folgen fehlender Information, irrtümlicher Rezeption oder absichtsvoller Ignoranz.
Ausgehend von Überlegungen des Forschungsverbundes "Übersetzungsleistungen von Diplomatie und Medien im vormodernen Friedensprozess. Europa 1450-1789" zu einer "Vergessenskultur", zur Bedeutung des Verdrängens und Ausblendens für die Praktiken des Friedensstiftens, deutet der Herausgeber in seiner knappen Einführung Fragestellungen der gegenwärtigen Forschung zu Nichtwissen kurz an. Mehrere Autoren des Sammelbandes greifen diese Hinweise auf die in den letzten Jahren beträchtlich gewachsene Forschung insbesondere der Kultur- und Sozialwissenschaften zum Nichtwissen explizit auf und geben dem Leser einen breit gefächerten Einblick zu verschiedensten Ansatzpunkten der Theoretisierung, Kategorisierung und forschungspragmatischen Konzeptualisierung der Ignoranz in ihren verschiedenen Schattierungen.
Gegliedert ist der Band mit seinen insgesamt zehn Beiträgen in zwei Abteilungen, die in einem "zeitlichen Kontext" und einem "thematischen Kontext" - freilich sind hier eindeutige Zuordnungen schwierig - Nichtwissen und seine Folgen in Gestalt von Unwissen, Ignoranz und Missverständnissen analysieren. Dem Leser präsentieren sich, bezogen auf die Gesamtheit der Beiträge, im Wesentlichen drei konzeptionelle bzw. methodische Schwerpunkte: So wird die umfängliche gelehrte Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Wirkung von Nichtwissen vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert vorgestellt, mit besonderer Betonung der Positionen zum bewussten Umgang mit oder zum intentionalen Einsatz von Nichtwissen - beziehungsweise zu vorteilhaften Konsequenzen gerade auch für die diplomatische Praxis (insbesondere die Beiträge von M. Kintzinger, M. Scattola, M. Espenhorst).
Ausgehend von jeweils einem konkreten frühneuzeitlichen Fallbeispiel erschließt eine weitere Gruppe von Beiträgen zum einen Fälle nicht intendierten Nichtwissens und Missverstehens, die zur Verschärfung von Konfliktlagen beitragen oder etwa die Ausgangsposition einer diplomatischen Delegation für Friedensverhandlungen radikal verschlechtern konnten (vgl. C. Manegold zum Achtzigjährigen Krieg und M. Rohrschneider zur spanischen Verhandlungsführung bei den Westfälischen Friedensverhandlungen). Zum anderen werden aber auch die Chancen klar, die vorgebliches und - zugleich - tatsächliches Nichtwissen durch die Reduktion von Komplexität bei Friedensverhandlungen eröffneten: So wurde, ein eindrückliches Beispiel, der Normaljahresregel des Westfälischen Friedens der Weg gebahnt. Kompromissbereitschaft trotz einer unsicheren Wissensbasis zur unübersichtlichen konfessionellen Gemengelage des Heiligen Römischen Reiches kann hier schlüssig als Vertrauensbeweis im Verhandlungsprozess interpretiert werden (R.-P. Fuchs). Die mediale Verarbeitung diplomatischer Verhandlungen kann auf indirektem Wege Indizien für eine gezielte Vorenthaltung von Information im Sinne einer bewussten, öffentlichkeitswirksamen (Des-)Informationspolitik liefern, wie das Beispiel der Zeitungsberichterstattung der 1740er Jahre zu den österreichisch-osmanischen Beziehungen zeigt (M. Baramova).
Dem Schwerpunkt "Sprache, Kultur und Missverstehen" widmen sich schließlich drei weitere Beiträge mit einem wiederum zeitlich weit gespannten Horizont vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Nicht nur fremdsprachliche Probleme, gerade in der Kommunikation mit Mächten wie dem Osmanischen Reich und Russland, deren Sprachen nicht zum Standardrepertoire von Gesandten gehörten, machten den Austausch aufwändig und störanfällig, sondern auch die Notwendigkeit kultureller Übersetzungs- bzw. Interpretationsleistungen durch Übersetzer (K.P. Jankrift, A. Schmidt-Rösler). Letztere Aufgabe wird nicht ohne Grund in der modernen Translationswissenschaft besonders hervorgehoben - und abschließend auch in ihrer Relevanz für rechtshistorische und aktuell juristische Zugänge zu völkerrechtlichen Vertragswerken betont (Th. Gergen).
Der Sammelband belegt anhand zahlreicher Beispiele insgesamt eindrücklich, wie differenziert die Zeitgenossen die Frage des Nichtwissens und seiner Konsequenzen, aber auch seine Instrumentalisierbarkeit reflektierten. In Fallbeispielen mit einem vorwiegend akteurszentrierten Zugang wird vorgeführt, wie in der Praxis der Mächtepolitik die destruktiven wie produktiven Folgen des Nichtwissens wirksam wurden bzw. mit welchen Strategien unausweichlichem Nichtwissen zeitgenössisch begegnet, wie es unter Umständen gar zum Vorteil umgemünzt werden konnte. Dass nicht alle Beiträge gleichermaßen den vormodernen Friedensprozess in den Fokus der Ausführungen rücken, fällt angesichts der Grundsätzlichkeit und Übertragbarkeit vieler Beobachtungen nicht störend ins Gewicht. Schade ist allerdings, dass nicht allen Texten dieselbe redaktionelle Sorgfalt zuteil wurde.
Die analytische Erfassung von Unwissen, Ignoranz und Missverständnissen - auch in der Erforschung der frühneuzeitlichen Diplomatie -, das zeigen die Beiträge nur zu deutlich, ist unersetzlich, wenn das "Reich des Wissens beschrieben werden" soll. [4] Für das Ziel, Grundlagen, Praktiken, Zwänge des diplomatischen Austauschs möglichst umfassend zu erschließen, ist die Berücksichtigung dieser Perspektive unerlässlich und bewahrt vor mancherlei kurzschlüssigen Urteilen. Von daher ist zu hoffen, dass der vorliegende Band zahlreiche Nachahmer finden wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Robert N. Proctor / Londa Schiebinger (eds.): Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance, Stanford 2008.
[2] Vgl. für den Gesamtzusammenhang der Etablierung des frühneuzeitlichen Gesandtenwesens: Lucien Bély: L'art de la paix en Europe. Naissance de la diplomatie moderne, XVIe-XVIIIe siècle, Paris 2007.
[3] Vgl. Martin Espenhorst: "Missverstand" als völkerrechtliche Legitimationsfigur im vormodernen Friedensprozess, in: Ders. / Heinz Duchhardt (Hgg.): Frieden übersetzen in der Vormoderne. Translationsleistungen in Diplomatie, Medien und Wissenschaft, Göttingen 2012, 113-127.
[4] Vgl. Achim Geisenhanslüke / Hans Rott (Hgg.): Ignoranz. Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen, Bielefeld 2008, 7.
Regina Dauser