Anton Pelinka: Wir sind alle Amerikaner. Der abgesagte Niedergang der USA, Wien: Braumüller Verlag 2013, 190 S., ISBN 978-3-9910-0099-0, EUR 22,90
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Das ist ein zeitgemäßer und lesenswerter schmaler Band über die Rolle der USA in der Welt und ihre historische und gegenwärtige Bedeutung für Europa. Es ist ein streitlustiger Essay für ein primär nichtfachwissenschaftliches Publikum aus der Feder eines renommierten österreichischen Sozialwissenschaftlers, dessen Biographie geradezu exemplarisch für die transatlantische Integrationsleistung der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg steht. In diesem engagierten politischen Kommentar werden persönliche Beobachtungen und Erfahrungen aus sieben Jahrzehnten mit historisch-politischer Betrachtung verflochten. Pelinka räumt als Destillat seiner langjährigen professionellen Beschäftigung mit den USA mit beliebten Vorurteilen und schiefen Sichtweisen im europäischen Amerikabild auf. Er modifiziert dabei die These von Andrei Markovits (2004), wonach Europa sich immer gegen Amerika definiert habe. Denn Europa bilde sich nur ein, "von Amerika so verschieden zu sein. Aber in Wirklichkeit ist es Amerika sehr, sehr ähnlich" (7). Im Kern hebt Pelinka auf westliche Gemeinsamkeiten und Konvergenzen ab, während der öffentliche Diskurs augenblicklich mal wieder Differenzen betont.
Jedes Kapitel eröffnet mit einer persönliche Reminiszenz des 1941 in Wien geborenen Pelinka. Seine erste Erinnerung an Amerikaner war generationsspezifisch in seinem Falle zwar nicht die Hoover-Speisung oder die schwarzen GIs hoch auf dem Jeep beim Einmarsch in eine deutsche Stadt, sondern ein Weihnachtsfest für Schulkinder im 18. Wiener Bezirk. In der geteilten Stadt waren die Amerikaner schlicht die bessere Option für eine Familie, die Pelinka zufolge in Distanz zum Nationalsozialismus gestanden hatte. Auch die folgenden Kapitel berichten von typischen Erlebnissen seiner Alters- und Berufsgruppe, wenn er über die Auseinandersetzung mit dem "anderen Amerika" während des Kampfes um die Bürgerrechte in den 1950er Jahren spricht, über die Faszination für Kennedy, den er gerne unterstützt hätte ("wäre meine Hilfe nur gebraucht worden", 10). Sein erster Besuch in den USA als junger Wissenschaftler erfolgte 1967. Das wegen Vietnam und der Konflikte um die Bürgerrechtsgesetzgebung tief in sich zerrissene Amerika "faszinierte mich durch seine Widersprüchlichkeit" (31). Diesem Land verdanke er seine Freiheit, auch wenn Lynchjustiz bis ins 20. Jahrhundert Realität geblieben sei. Diese Widersprüche sind für den jungen Mann aus der europäischen Provinz "einfach die Welt" (32).
Mehrfach streut Pelinka Reminiszenzen ein, wonach er als linksliberaler Österreicher und Europäer innerhalb seiner "peer group" auf Unverständnis "für differenzierte Betrachtung der USA" stoße (120). Es hat genug von dem "intellektuell langweilig" (122) gewordenen Antiamerikanismus auch gebildeter Europäer und der Selbstgerechtigkeit hiesiger Amerikakritik. Für Pelinka zentral ist die Einsicht, dass das heutige integrierte, friedliche, demokratische Europa ohne die USA nicht existierte. Amerika sei nach 1945 seine globale Rolle geradezu aufgedrängt worden (99). Das trifft historisch gesehen cum grano salis zu - jedenfalls aus der Sicht derjenigen Amerikaner in der Tradition des mittwestlichen Isolationismus, die sich lange heftig gegen die Verstrickung in permanente Bündnisse wehrten. Indes war die internationalistische Variante des amerikanischen Traums schon von Wilson forciert worden und hatte sich dann unter Franklin D. Roosevelt endgültig durchgesetzt. Hier könnte Pelinka noch kritischer nachfragen, wie in den USA "Empire", "Demokratie" und "Krieg" auch historisch zusammenhängen. Hier betont Pelinka meines Erachtens zu sehr die Widerstandskräfte gegen das weltpolitische Ausgreifen seit den 1940er Jahren.
Die These von Amerika als dem Geburtshelfer Europas ist Gegenstand historischer Debatten. Das weiß Pelinka natürlich. Ein nettes Aperçu bringt es gut auf den Punkt: Warum ist der in Aachen jährlich vergebene Karlspreis nach einem blutigen mittelalterlichen Kaiser und "Sachsenschlächter" benannt und nicht nach George Marshall oder Harry Truman? Das heutige Europa könne weder von Augustus noch von Karl dem Großen etwas lernen; es vergesse, dass es nicht nur künftig von den USA profitieren könne, sondern dass es bereits von den USA kräftig profitiert habe (135). Pelinka kommentiert Entwicklungen wie das Aufkommen eines Rechtspopulismus in den USA seit den 1960er Jahren durchaus kritisch (168f.), aber er stellt das in den Kontext einer Krise westlicher demokratischer Systeme überhaupt, nicht einer spezifischen Normabweichung der USA. Auch die von ihm als "rechtsstaatlich problematisch" bezeichnete Datensammelwut der US-Geheimdienste (die NSA-Affäre trat kurz vor der Drucklegung des Bandes auf) sieht er als Ausdruck eines globalen Trends. Die USA stünden hier am Pranger, weil sie anderen Nationen überlegen sind, nicht weil andere nicht spionierten. Für einen Abgesang auf die transatlantischen Beziehungen ist Pelinka nicht zu haben, auch wenn er Verhandlungen "auf Augenhöhe" fordert.
Schließlich tritt er auch dem innerhalb wie außerhalb der USA hingebungsvoll gepflegten "Declinism" entgegen, wonach sich Amerika in einer unaufhaltbaren Spirale nach unten befinde. Völlig zu Recht weist Pelinka darauf hin, dass Amerikas dominante Stellung 1945 exzeptionell war und es zu einer Reduzierung der Übermacht im wirtschaftlichen Bereich schon in den 1960er Jahren kam. Andererseits ist Amerika als Einwandererland ungebrochen attraktiv, was für keinen der üblichen Konkurrenten wie Russland, China oder Indien gilt, die Amerika die Rolle als Weltvormacht streitig machen wollen. Europa hingegen hat Mühe, seine besten Einwanderer zu halten. Auch als Transatlantiker könnte Pelinka meines Erachtens noch stärker darüber reflektieren, wie sehr der generationelle und demographische Wandel in den USA selbst sowie die permanente Verstrickung dieses Landes in ferne Kriege den transatlantischen Faden auch amerikanischerseits hat dünn werden lassen. Auch könnte man kritisch fragen, wie sehr aufgrund der Militarisierung der politischen Kultur der USA in den letzten Jahrzehnten Befürchtungen der Gründerväter vielleicht Wirklichkeit wurden? Man könnte John Quincy Adams zitieren, der einst davor gewarnt hatte, "im Ausland auf die Suche nach Monstern zu gehen". Dennoch: Die USA nicht einfach abzuschreiben, aus wohlverstandenem europäischen Eigeninteresse heraus, sieht Pelinka als ein wichtiges Vermächtnis seiner Generation, für die eben 1945 und nicht 1990 den Ausgangspunkt bildete. In diesem Sinne wünscht man diesem gut zu lesenden und meinungsstarken Text ein breites Publikum.
Philipp Gassert