Rezension über:

Ralf Ahrens / Boris Gehlen / Alfred Reckendrees (Hgg.): Die "Deutschland AG". Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte; Bd. 20), Essen: Klartext 2013, 378 S., ISBN 978-3-8375-0986-1, EUR 39,95
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Rezension von:
Marcus Böick
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Michael C. Schneider
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Böick: Rezension von: Ralf Ahrens / Boris Gehlen / Alfred Reckendrees (Hgg.): Die "Deutschland AG". Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus , Essen: Klartext 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/10/24179.html


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Ralf Ahrens / Boris Gehlen / Alfred Reckendrees (Hgg.): Die "Deutschland AG"

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So wie Industrie(kultur)denkmäler erst eingerichtet werden, wenn die Industrie aus den Werkhallen endgültig verschwunden ist, findet man auch für viele Phänomene offenkundig erst dann einen Begriff, wenn deren Zeit abgelaufen ist. So wurde die "Deutschland AG" ab Mitte der 1990er-Jahre in der Öffentlichkeit zu einem schillernden, Talkshow-geläufigen Terminus, der ein historisch gewachsenes Ensemble von personellen und finanziellen Verflechtungen zwischen großen bundesdeutschen Industrieunternehmen, Banken und Versicherungen beschreiben sollte, das im Blick der Zeitgenossen gerade in rascher Auflösung begriffen war.

Während der von wenigen Kommentatoren angestimmte Schwanengesang hierin einen "Ausverkauf" und Verlust an erfolgreicher Stabilität und vertrauensbildender Verlässlichkeit betrauerte, begrüßten viele in- wie ausländische Meinungsbildner demgegenüber den überfälligen Aufbruch einer national abgeschotteten Unternehmenslandschaft zu den verlockenden neuen Ufern eines (neo-)liberalisierten, deregulierten und im Globalmaßstab operierenden Finanz-Kapitalismus des anbrechenden 21. Jahrhunderts. Als Menetekel gilt die hitzige "Übernahmeschlacht" zwischen Mannesmann und dem britischen Vodafone-Konzern 1999/2000, als ausgerechnet die zunehmend im Investmentbanking engagierte Deutsche Bank, ein Ankerunternehmen der "Deutschland AG", ihre Beteiligung veräußerte und den Weg für einen Verkauf des Düsseldorfer Unternehmens "ins Ausland" freimachte - die einstmals eng gereihte, nationale Wagenburg bot nun keinen Schutz mehr.

In der historischen Forschung fristet die "Deutschland AG" bislang ein Schattendasein - ein erstaunlicher Umstand, dem ein von Ralf Ahrens, Boris Gehlen und Alfred Reckendrees herausgegebener Sammelband die nötige Abhilfe schaffen möchte. Bereits in der Einleitung machen die Autoren überzeugend geltend, dass es wenig sinnvoll erscheint, das Phänomen im Nachgang als gezielt eingerichtetes, volkswirtschaftliches Netzwerk- bzw. Strukturarrangement zu essentialisieren, wie es Ökonomen und Soziologen in den 1980er-Jahren versuchten, um so die Prosperität des bundesdeutschen "Wirtschaftsmodells" zu erklären. Die "Deutschland AG" wird demgegenüber als ein "Ergebnis institutioneller Pfadabhängigkeiten und historisch kontingenter, ja bisweilen zufälliger Entscheidungen in und von Unternehmen" begriffen; diese seien einer "betriebswirtschaftlichen Eigenlogik" gefolgt und gerade "nicht einer gesamtwirtschaftlichen Verantwortungslogik entsprungen" (23). Die "Deutschland AG" als Verflechtungsarrangement von Kapital und Personen erscheint so als eine aus unternehmerischem Handeln resultierende, dynamische Komposition von "Gelegenheitsstruktur und Ermöglichungszusammenhang" - und nicht als modellartiges, struktur-funktionales "Instrument politischer Steuerung" (22).

Damit bieten die Herausgeber eine eigene, unternehmenshistorische Deutungsvariante an: Etablierte "makrohistorische Strukturbeschreibungen" sollen mit "mikrohistorischen Unternehmensanalysen" verknüpft werden (23). Um dieses Programm umzusetzen, werden 13 Beiträge in drei Abteilungen organisiert. In einem ersten Schritt werden "Strukturen, Modelle und historische Wurzeln" besprochen - und damit die Vorgeschichte der "Deutschland AG" entfaltet: Alfred Reckendrees verortet deren "historische Wurzeln" im frühen 19. Jahrhundert; Karoline Krenn in den "Aufsichtsratsverflechtungen" der Weimarer Zeit. Roman Köster geht dem zwischen "Versumpfung" und "Zähmung" schwankenden Urteilen über derartige Kooperationsformen in verschiedenen Kapitalismustheorien seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Dergestalt sensibilisieren die Beiträge für langfristige ökonomische wie kulturelle Entwicklungslinien, obgleich einige Leerstellen offen bleiben, zu denen man vor allem die NS- oder frühe Nachkriegszeit zählen dürfte.

Der zweite Abschnitt widmet sich nun der "Unternehmenskontrolle" in der Bundesrepublik: Boris Gehlen untersucht das Gefälle zwischen Norm und Praxis mit Blick auf das Aktienrecht und das "mitunternehmerische" Handeln in den Aufsichtsräten; Ralf Ahrens zeigt die individuellen "Gestaltungsspielräume" eines "Verflechtungsexperten" am Beispiel des bestvernetzten Dresdner-Bank-Sprechers Jürgen Ponto, der seine zahlreichen Aufsichtsratsmandate durchaus unterschiedlich wahrzunehmen pflegte. Mit dem "Multiaufsichtsrat" Alfred Herrhausen steht auch im Beitrag von Frederike Sattler ein führender Deutsch-Banker im Rampenlicht, der sich an den in den 1970er-Jahren geführten Kontroversen um die "Macht der Banken" beteiligte. Insbesondere auf der Ebene handelnder und deutender Finanzmanager als "Verflechtungsexperten" gelingt so ein trefflicher Einblick in die konkreten wie komplexen Verästelungen dieses sozialen Geflechts, der jedoch durchaus noch "tiefer", etwa auf die Ebene unterhalb prominentester Spitzenmanager, hätte reichen können.

Die dritte Abteilung ergründet "Alternative Arrangements" und die "Auflösung der Deutschland AG". Peter Kramper betrachtet Entstehung, Strukturen und Zerfall des Verbunds gewerkschaftlicher Unternehmen und arbeitet strukturelle Parallelen zur "ungeliebten Verwandtschaft" heraus; Heiko Braun hebt bei seinem Porträt der "Pharma AG", einem Kooperationsnetzwerk der bundesdeutschen Arzneimittelkonzerne, auf differente Logiken ("Bewältigung" versus "Schutzmacht") ab. Die "Auflösung" des Geflechts illustriert Saskia Freye am Beispiel von Daimler-Benz, das sich seit den 1980er-Jahren aus unternehmensstrategischen Gründen aus der "Mitte der Deutschland AG" zurückzog. Die Rahmenerzählung des Bandes rundet sich damit zum klassischen historiografischen Erzählschema von Ursprüngen, Aufstieg und Niedergang, lässt aber auch dezidiert Seitenblicke auf "Alternativen" zu, wenngleich die Beschreibung der Auflösungsprozesse in den 1990er-Jahren noch impressionistisch bleiben muss.

Aufs Ganze besehen setzen die Beiträge ihr Instrumentarium auf verschiedenen Argumentationsebenen an: Auf diese Weise bleiben sowohl übergeordnete Diskurse und Debatten, (Makro-)Strukturen des Netzwerks, aber insbesondere auch Branchen, Einzelunternehmen und Persönlichkeiten als Akteursgruppen im Blick. Dieser Facettenreichtum ist begrüßenswert, hätte aber auch Anlass für übergreifende Syntheseversuche geboten. So geraten interessante, jedoch über verschiedene Aufsätze verstreute Querschnittsthemen wie der bemerkenswert beständige, bis in die Gegenwart reichende Deutungsstreit um die "Macht der Banken" etwas aus dem Blick. Auch fällt auf, dass der originären Etablierungszeit des personell-finanziellen Beziehungsgewebes in der frühen Bundesrepublik nur wenig Aufmerksamkeit zuteilwird; gleichermaßen erscheinen die Überlegungen über dessen "Auflösung" in den 1990er-Jahren im Kontext von "Globalisierung", unternehmensstrategischer "shareholder-value"-Orientierung und einer (gänzlich ausgesparten) postsozialistischen "Transformation" eher als Ausgangspunkt für weitere Forschungen.

Auf dem durchweg soliden Fundament dieses Sammelbandes ließe sich künftig aufbauen, da er zum produktiven Weiterdenken anregt: Diskutabel erscheint, ob auf die von den Autoren konsequent vollzogene Perspektivverschiebung von einer netzwerkanalytischen Makro- auf eine branchenhistorische Meso- bzw. unternehmenshistorische Mikroperspektive im dritten Schritt eine wirtschaftskulturhistorische Analyse aus der Metaperspektive erfolgen sollte: So hätte das eigentümliche Prinzip des ökonomischen Nachdenkens bzw. Erzählens über (wirtschaftsnationale) Formationen einige Aufmerksamkeit verdient. Die "Deutschland AG" erschiene so nicht nur als aus langfristigen Strukturen wie kurzfristigen, unternehmerischen Erwägungen heraus gewachsene Konfiguration, sondern als wirkmächtiges wirtschaftskulturelles Ensemble an Fremd- und Selbstdeutungen, das durch konkret handelnde Personen (Manager, Banker oder Ökonomen) aktiv ausgestaltet wurde; und das genau dann "brüchig" zu werden begann, als eben jene kollektiven Sinn- und Deutungszusammenhänge ihre Fraglosigkeit einbüßten.

Interessanterweise erlebte die "Deutschland AG" ihr Revirement im Gefolge der weltweiten finanzwirtschaftlichen Krisenschübe nach 2008: Bald reüssierte ein nostalgischer Rückblick auf die Wirtschaftswunderwelt der alten Bundesrepublik, die durch die wohlgeordnete, bei Großwildjagden oder auf Golfplätzen gepflegte Partnerschaft miteinander verbundener Spitzenmanager und -banker geprägt gewesen schien, die in den finanzkapitalistischen "Exzessen" der 1990er-Jahre voreilig hinweggefegt und vollends durch anonyme Finanzströme ersetzt wurde, die nunmehr unbeschränkt "um den Erdball" jagten. Gerade in dieser Hinsicht erscheinen die vorliegenden Resultate einer unternehmenshistorischen Erstbegehung der "Deutschland AG" von allerhöchster Aktualität - und laden zu weiteren Explorationen ein.

Marcus Böick