Angela Siebold: ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengen-Raums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, 376 S., ISBN 978-3-506-77777-5, EUR 49,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
"Grenze, Paß, Visum? Das sind doch keine Hindernisse für einen echten Europäer." [1] Mit diesen Worten würdigte die Zeitschrift Junges Europa 1950 den illegalen Grenzübertritt einer Gruppe westdeutscher Jugendlicher auf Italien-Reise als Ausdruck eines wachsenden Europabewusstseins. Die Hoffnung auf ein Europa ohne Grenzen, oder zumindest ohne Grenzkontrollen, hatte eine lange, bis in die Zwischenkriegszeit zurückreichende Tradition, und beschleunigte sich im Kontext der beginnenden europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg. [2] Bis zu ihrer realpolitischen Umsetzung dauerte es jedoch bis ins Jahr 1985, als Regierungsvertreter von zunächst fünf europäischen Staaten im kleinen luxemburgischen Dorf Schengen das Abkommen zum "schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen" unterzeichneten, für dessen Implementierung ein de facto erst 1995 in Kraft getretenes Durchführungsabkommen notwendig war.
Angela Siebold widmet sich in ihrer Dissertation der Geschichte von "Schengenland". Sie untersucht drei Länder: neben den beiden ursprünglichen Signatarstaaten Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland auch Polen. Somit fällt ihr Blick zwangsläufig auf zwei der fraglos umstrittensten europäischen Binnengrenzen. Das Grundanliegen der Arbeit besteht im Nachzeichnen der Grenzdiskurse, die den Schengen-Prozess zwischen 1985 und 2007 prägten, als die Grenzkontrollen in den der EU beigetretenen ostmitteleuropäischen Staaten, darunter Polen, abgebaut wurden. Darüber hinaus erhofft sich die Autorin Erkenntnisse hinsichtlich des Zäsurcharakters des Jahres 1989 und damit letztlich der Bedeutung, die das Ende des Kalten Krieges für die europäische Integration hatte.
Die Untersuchung zerfällt in drei Teile. Im ersten Hauptkapitel stellt Siebold die Geschichte des Schengener Abkommens, seiner Umsetzung sowie der sukzessiven Erweiterungsrunden dar und analysiert die öffentlichen Debatten, die diesen Prozess begleiteten. Letzterer wurde in den deutschen, französischen und (nach der EU-Osterweiterung 2004) den polnischen Printmedien nach anfänglicher Zurückhaltung nicht nur breit rezipiert, sondern auch überwiegend stark positiv gedeutet. Zugleich identifiziert die Autorin Schengen als ein sinnstiftendes Moment der Grenzziehung, über das grundsätzliche Fragen der Zugehörigkeit ausgehandelt wurden. Denn analog zur politischen Erweiterung des Schengen-Raumes dehnten sich auch die mental maps Europas aus, wobei die neue räumliche Perspektive ab Mitte der 1990er Jahre zunehmend den Osten des Kontinents einschloss. Schengen entwickelte sich so zu einem Sinnbild der diskursiven Annäherung von West- und Osteuropa und avancierte zum "Antriebsmotor im europäischen Integrationsprozess" (94). Zugleich entstanden in diesem Zusammenhang neue "Grenzen in den Köpfen", führte die Abschaffung der binneneuropäischen Grenzkontrollen doch auch zu Exklusion, Abschottung und Abgrenzung gegenüber Außereuropa.
Dass die Schengen-Euphorie vorwiegend auf eine eher abstrakt-symbolische Ebene beschränkt blieb, die in einem Spannungsverhältnis mit den antizipierten und tatsächlichen Folgen der wegfallenden Grenzkontrollen stand, weist Siebold im zweiten Hauptkapitel nach. In diesem erörtert sie die Gründe für den langwierigen Umsetzungsprozess der Beschlüsse von 1985 für ein grenzfreies Europa. Dieser sei Resultat von spezifischen Verlustängsten, die durch Schengen aufgeworfen und durch das Ende des Kalten Krieges noch potenziert wurden. Neben der Sorge um die Kontrollhoheit an den eigenen Grenzen und damit verbundenen Sicherheitsbedenken thematisiert die Autorin in diesem Kontext auch die Angst der Zöllner vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Entsprechend ausführlich diskutierten die Printmedien die in Reaktion auf die Widerstände gegen die Schengener Bestimmungen vereinbarten Ausgleichsmaßnahmen, etwa hinsichtlich der Änderung des Asylrechts, einer gemeinsamen Visapolitik oder neuer Formen der Grenzsicherung, zumal an den neuen EU-Außengrenzen.
Im dritten Hauptkapitel befasst sich Siebold mit tatsächlichen Grenzüberschreitungen. Neben den positiv konnotierten Motiven der Reisefreiheit und des binneneuropäischen Freihandels fokussierte die öffentliche Debatte vorwiegend auf kritikwürdige Aspekte, darunter Kriminalität, Arbeitsmarktkonkurrenz sowie Migrations- und Flüchtlingsfragen. Somit zeigte sich auch hier die Ambivalenz des Schengen-Diskurses, der zum einen Erfahrungen eines grenzenlosen, gelebten Europas der Bürger beinhaltete. Zum anderen rückten jedoch die damit verbundenen Herausforderungen ins Zentrum des medialen Interesses, wobei sich in allen Staaten und Zeitungen besonders die Sorge vor illegaler Zuwanderung aus dem Süden und Osten als Schreckgespenst manifestierte.
In diesem Zusammenhang gilt es jedoch einen methodischen Einwand festzuhalten. Abgesehen von einigen kurzen Bemerkungen in der Einleitung, dass die ausgewerteten Pressequellen (je zwei Qualitätszeitungen pro Untersuchungsland) bezüglich Auflagenstärke, politischer Standpunkte und nationaler Bedeutung vergleichbar seien, werden ihre Auswahl, Geschichte und grundsätzliche Positionierung (etwa in Fragen der europäischen Integration) nicht näher erläutert. Dies zu bemängeln mag kleinkariert wirken, tatsächlich deutet es jedoch auf ein grundlegendes Problem hin: Die spezifische Funktion der Medien bleibt im Verlauf der Analyse sehr blass. Zwar unternimmt die Autorin zu Beginn einen theoretischen Problemaufriss zu Tageszeitungen als historischer Quelle, in dem sie zu Recht feststellt, dass Massenmedien keine Realität widerspiegeln. Im Hauptteil der Arbeit wird die mediale Bedingtheit des Untersuchungsgegenstandes dann jedoch kaum reflektiert. Gab es feste redaktionelle Linien und welche Unterschiede finden sich in der Berichterstattung der von ihrer politischen Ausrichtung her differenten Printmedien? Welche Rolle spielten mediale Eigenlogiken, etwa der Hang zu Emotionalisierung, Sensationalisierung und Dramatisierung? Gerierten sich die Tageszeitungen im Zuge der Debatte um ein grenzfreies Europa als politische Akteure oder dienten sie eher als Diskursplattformen? Diese Fragen bleiben weitgehend offen, so dass Siebold im Wesentlichen eben doch eine Geschichte von Schengen im Spiegel der Presse schreibt - zumal ihr deren Berichterstattung mangels Forschungsliteratur ausdrücklich auch als "Informationsquelle" dient (34).
Dies muss freilich gar nicht als allzu große Schwachstelle verstanden werden. Denn Siebold gelingt es trotzdem, einen kontroversen, hochpolitischen und historiografisch bislang so gut wie unbeachteten [3] Gegenstand der jüngsten Gegenwart klar zu konturieren - und das in einem weiten, transnationalen Rahmen, innerhalb dessen sie gemeinsame europäische Deutungsmuster ebenso aufzeigen kann wie Unterschiede zwischen den drei Untersuchungsländern. Entsprechend bietet die Arbeit eine Fülle an wichtigen Befunden. Im Anschluss an neuere Forschungen [4] liefert sie den empirischen Nachweis, dass die Vorstellung eines gänzlich grenzfreien Europas bis heute eine Utopie ist, das europäische Projekt mithin von Abgrenzung lebt - eine Erkenntnis, die nicht zuletzt angesichts der jüngsten Widerstände gegen einen Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens oder der Forderungen des damaligen deutschen Innenministers Friedrich nach schärferen Grenzkontrollen 2012 aktueller ist denn je. Zugleich untermauert Siebold stichhaltig ihre These, dass dem Jahr 1989 eine fundamentale Bedeutung im Kontext der Genese von "Schengenland" zufiel: Erst durch den Fall des Eisernen Vorhangs erfuhr die "europäische Idee" der offenen Grenzen einen immensen Bedeutungszuwachs. So kann das Buch Europahistorikern ebenso wie allgemein zeitgeschichtlich interessierten Lesern zur Lektüre empfohlen werden.
Anmerkungen:
[1] Zit. nach Christina Norwig: "Unser Paß ist die Europa-Fahne." Junge Reisende und europäische Integration in den 1950er Jahren, in: Frank Bösch u.a. (Hgg.): Europabilder im 20. Jahrhundert. Entstehung an der Peripherie, Göttingen 2012, 216-236, hier 224.
[2] Vgl. etwa jüngst zu medialen Repräsentationen des Diskurses über ein grenzenloses Europa in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten Ariane Brill: Abgrenzung und Hoffnung. "Europa" in der deutschen, britischen und amerikanischen Presse, 1945-1980, Göttingen 2014, v.a. 239-243 sowie Eugen Pfister: Europa im Bild. Imaginationen Europas in Wochenschauen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Österreich 1948-1959, Göttingen 2014, 226-233.
[3] Für die deutschsprachige Forschung liegt bislang lediglich eine Monografie vor, die institutionsgeschichtlich aufgebaut ist und sich primär Fragen des polizeilichen Grenzschutzes widmet: Andreas Pudlat: Schengen: Zur Manifestation von Grenze und Grenzschutz in Europa, Hildesheim 2013.
[4] Vgl. Michael Gehler / Andreas Pudlat (Hgg.): Grenzen in Europa, Hildesheim 2009.
Florian Greiner