Mark Rüdiger: »Goldene 50er« oder »Bleierne Zeit«? Geschichtsbilder der 50er Jahre im Fernsehen der BRD, 1959-1989 (= Historische Lebenswelten in populären Wissenkulturen; Bd. 13), Bielefeld: transcript 2014, 354 S., 157 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-2735-0, EUR 34,99
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Geschichte boomt, nicht zuletzt in der Film- und Fernsehindustrie. Die dem Whiskey verfallenden Protagonisten der US-Serie Mad Men verzaubern zahllose Zuschauer, die sich in die Swinging Sixties zurücksehnen. Wie sehr Film und Fernsehen Einfluss auf geschichts- und erinnerungskulturelle Vorstellungen nehmen, zeigt Mark Rüdiger in seiner 2013 an der Universität Freiburg vorgelegten Dissertation "'Goldene 50er' oder 'Bleierne Zeit'". Mit seiner Arbeit möchte der Autor "untersuchen, welche Geschichtsbilder der 50er Jahre in Geschichtssendungen des bundesrepublikanischen Fernsehens zwischen 1959 und 1989 vermittelt wurden"; zugleich will er "in mehrfacher Hinsicht einen Beitrag zur Geschichts- und Erinnerungskulturforschung leisten" (289). Zwischen 1959 und 1989, so Rüdiger, erlebte das erste Nachkriegsjahrzehnt der Bundesrepublik eine intensive mediale Rezeption, die Rückschlüsse zulässt auf erinnerungs- und geschichtspolitische Diskurse in der Bundesrepublik.
In den ersten beiden Kapiteln der Untersuchung stellt Rüdiger die Produktionsbedingungen und Formate von Geschichtssendungen vor. Im dritten und vierten Kapitel analysiert er seine Quellen - nonfiktionale und fiktionale Geschichtssendungen des westdeutschen Fernsehens, darunter Dokumentationen, semidokumentarische Sendungen, Fernsehspiele und Literaturverfilmungen - im chronologischen Verlauf, wobei er den Untersuchungszeitraum in zwei Phasen unterteilt. Die Jahre zwischen 1959 und 1976 charakterisiert er als Formierungsphase, in der das Bild der 1950er Jahre zwischen Gegenwart und Vergangenheit changiert habe. Die zweite Phase zwischen 1977 und 1989 sei dagegen von wechselnden Konjunkturen und widerstreitenden Deutungsmustern gekennzeichnet gewesen, die er mit dem Schlagwort "Polarisierungen" beschreibt.
Für die Formierungsphase bis 1976 konstatiert der Autor eine erste Historisierung der 1950er Jahre in Folge von Jubiläen und Gedenktagen. Besonders den Tod Konrad Adenauers im April 1967 empfanden die Zeitgenossen als Zäsur, was einer Historisierung der 1950er Jahre zugutekam. Zu Beginn moderierten und kommentierten Journalisten, darunter Thilo Koch und Fritz René Allemann, Dokumentationen wie "Die fünfziger Jahre in Deutschland" oder "Weimars Schatten über Bonn?". Sie berichteten über das "Wirtschaftswunder", die Teilung Deutschlands oder Konrad Adenauer. In Fernsehspielen wie "Die Chronik der Familie Nägele", "Die Rebellion der Verlorenen" oder "Das Glück läuft hinterher" zeichneten die Filmschaffenden die 1950er Jahre zumeist als wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, auch wenn sie nicht nur die Geschichte der Gewinner, sondern auch die der Verlierer des ökonomischen und sozialen Wandels erzählten.
Im vierten Kapitel, dem umfangreichsten der Dissertation, argumentiert Rüdiger, das wachsende Geschichtsinteresse und der zunehmende zeitliche Abstand hätten den 1950er Jahren zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit verholfen. Zugleich nahmen die Zeitgenossen die teils krisenhaften Konjunkturzyklen der 1970er/80er als Zäsur wahr, die die 1950er Jahre als Vorgeschichte interessant machte.
Mit dem Neuen Deutschen Film kam es zu einer generationellen Verschiebung im fiktionalen Bereich. Die "Kriegskinder" und Vertreter der 68er-Generation dominierten seit den 1970er Jahren unter den Filmschaffenden. Sie griffen bereits existierende Geschichtsbilder auf und hinterfragten sie. Regisseure wie Margarethe von Trotta, Helma Sanders, Rainer Werner Fassbinder und Volker Schlöndorff repräsentierten die neue Generation. Mit ihren Filmen wie "Hungerjahre", "Die bleierne Zeit" oder "Die Ehe der Maria Braun" thematisierten sie die 1950er Jahre als restaurative Dekade. Sie sprachen von einer "restaurativen Bürgerlichkeit" (170) und einem verpassten gesellschaftlichen und politischen Neuanfang. Ihre Filme kritisierten die Integration ehemaliger Nationalsozialisten ebenso wie den ungehemmten Konsum der Boom-Jahre. Nostalgische Verklärung lehnten sie ab und forderten statt dessen Authentizität. Zugleich entwickelte die 68er-Generation eine Deutungshoheit über die Wahrnehmung der 1950er Jahre, die andere Interpretationen nur schwer zuließ.
Im non-fiktionalen Bereich stellt Rüdiger während der Polarisierungsphase eine zunehmende Ausdifferenzierung der Sendungsformate fest. So entstanden im Laufe der 1970er und 1980er neue Gattungen wie "Mosaiksendungen", die die 1950er Jahre semidokumentarisch abhandelten, oder nachrichtenähnliche Wochenschausendungen. Der virulenten Frage nach der nationalen Identität begegneten die Filmschaffenden mit Dokumentationen wie "Die eigene Geschichte" oder "Kultur der Fünfziger Jahre", in dem sie die 1950er als Gründungs- und Aufbaujahrzehnt darstellten. Alltags- und kulturgeschichtliche Dokumentationen zeigten das "restaurativ-kritische [...] Potenzial", das nonfiktionalen Sendungen innewohnte (246). Eine Auseinandersetzung mit der Integration ehemaliger Nationalsozialisten fand so gut wie nicht statt. Das Auftreten von Zeitzeugen und Historikern in diesen Dokumentationen beweist laut Rüdiger eine zunehmende Historisierung der 1950er Jahre.
Mark Rüdiger schließt mit seiner Dissertation eine Forschungslücke, indem er Geschichtssendungen als historische Quellen analysiert. Das Quellenmaterial ist für einen Historiker höchst anspruchsvoll, da es Kenntnisse der Film- und Medienanalyse voraussetzt. Rüdiger zeigt im chronologischen Verlauf den Wandel von Geschichtsbildern im westdeutschen Fernsehen, die sich stark an zeitgenössischen geschichtspolitischen Diskussionen orientierten, er konstatiert eine stetige Historisierung der 1950er Jahre im Fernsehen und stellt generationelle Geschichtsbilder heraus. Zugleich kann Rüdiger nachweisen, wie stark das Medium Fernsehen an deren Konstruktion beteiligt ist. Zu den wenigen Monita, die den guten Gesamteindruck aber nicht trüben können, gehört das Ungleichgewicht, das durch die Schwerpunktsetzung auf die zweite Phase des Untersuchungszeitraums entsteht. Zudem verwirrt der unterschiedliche Aufbau der beiden inhaltlichen Hauptkapitel etwas. Auch wäre eine klarere Definition des Begriffs "Geschichtssendung" wünschenswert gewesen.
Anne Crumbach