Andreas Malycha: Die SED in der Ära Honecker. Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei 1971 bis 1989 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 102), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2014, VIII + 471 S., ISBN 978-3-486-74709-6, EUR 59,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Gerhard Keiderling: Um Deutschlands Einheit. Ferdinand Friedensburg und der Kalte Krieg in Berlin 1945-1952, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009
Christian Schwießelmann: Die CDU in Mecklenburg und Vorpommern 1945 bis 1952. Von der Gründung bis zur Auflösung des Landesverbandes (1945-1952), Düsseldorf: Droste 2011
Michael C. Bienert: Zwischen Opposition und Blockpolitik. Die "bürgerlichen" Parteien und die SED in den Landtagen von Brandenburg und Thüringen (1946-1952), Düsseldorf: Droste 2016
Dierk Hoffmann / Andreas Malycha (Hgg.): Erdöl, Mais und Devisen. Die ostdeutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen 1951-1967. Eine Dokumentation, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016
Andreas Malycha: Vom Hoffnungsträger zum Prügelknaben. Die Treuhandanstalt zwischen wirtschaftlichen Erwartungen und politischen Zwängen 1989-1994, Berlin: Ch. Links Verlag 2022
Andreas Malycha / Peter Jochen Winters: Die SED. Geschichte einer deutschen Partei, München: C.H.Beck 2009
Im Jahre 2008 legte die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ein umfangreiches Sonderprogramm zur Förderung von Arbeiten zur SED-Geschichte auf. Sie reagierte damit auf deutliche Ungleichgewichte in der seit der Vereinigung boomenden DDR-Forschung. Nach Tausenden zählten die Forschungsanträge, die bei der Stasi-Unterlagen-Behörde eingingen und die, ex-post betrachtet, oft vor allem darauf zielten, inoffizielle Mitarbeiter zu enttarnen. Weit weniger beachtet wurde die eigentliche Machtträgerin, die SED. Angesprochen werden sollten jetzt analysierende Dickbrett-Bohrer. Federführend betreut wurden die Projekte vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ), Außenstelle Berlin, und dem Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung (ZZF) in Potsdam. Zu den ersten publizierten Ergebnissen gehört die vorliegende Arbeit von Malycha, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IfZ, der bereits mit einer Monographie zur Frühgeschichte der SED hervorgetreten ist. [1]
Sein Ziel ist es, "Struktur, Entwicklung und Funktionsweise" der SED-Parteizentrale in der Ära Honecker herauszuarbeiten und "Entscheidungsabläufe, Konfliktfelder und mögliche alternative Politikansätze" im Politbüro zu untersuchen, um die Herrschaftspraxis der SED zu verdeutlichen (2).
Auf eine Vorabanalyse des Forschungsstandes verzichtet er, da sein 2003 veröffentlichter Bericht darüber "in der Grundtendenz" noch immer gültig sei (1). Ungenutzt bleibt so die Chance, dem Leser den nach mehrjähriger Forschung erreichten Erkenntnisfortschritt zu verdeutlichen - und der ist beachtlich. Zudem belegt allein das Literaturverzeichnis, dass seitdem einiges Erwähnenswerte erschienen ist. Er selbst urteilt über eine dieser Arbeiten, ihr Wert für die Forschung könne "kaum überschätzt werden" (2) und orientiert sich daran. [2] Ähnlich anregend war für ihn offenbar eine ältere Analyse der Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in der SED-Führung in den 1960er Jahren. [3]
Malychas Untersuchung ist chronologisch angelegt und beginnt mit einer zusammenfassenden Analyse der Führungspraxis in der Übergangsphase von Ulbricht zu Honecker. In den Abschnitten IV-VII (177-409) befasst er sich mit den Jahren 1971-89. Inhaltlich geht es um den wirtschaftspolitischen Kurs der Partei und die Auseinandersetzungen darüber an der Spitze - nicht um eine Gesamtgeschichte der SED. Den Fokus auf dieses Konfliktfeld zu richten, erscheint sinnvoll, denn das Schicksal der DDR wurde nicht zuletzt von ihrer Fähigkeit entschieden, sich in der steten Konkurrenz mit der Bundesrepublik zu behaupten und der eigenen Bevölkerung die reklamierte Überlegenheit des Sozialismus gerade im Ökonomischen zu beweisen. Zudem wurde in der Parteiführung über nichts so intensiv gestritten wie über die Frage, ob und wie sich Honeckers Sozialpolitik fortsetzen und die Westverschuldung eindämmen ließe, ohne die Leidensfähigkeit der Bürger zu überfordern.
Die chronologische Grundstruktur wird unterbrochen von Informationen zu Funktionären, die in späteren Jahren aus dem Politbüro ausschieden (123-176): zu Werner Lamberz, der 1978 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, zu Konrad Naumann und Herbert Häber, die 1985 entmachtet wurden. Diese Fälle haben wissenschaftlich wie in den Medien große Beachtung gefunden. Sich an dieser Stelle damit zu befassen, erscheint nicht zwingend. Malycha aber gelingt es, seine Qualitäten als akribischer Rechercheur und fundierter Sachkenner unter Beweis zu stellen. Selbst, wo die Piloten der verunglückten Maschine ihre Ausbildung erhalten hatten, wie die Wohnungsprobleme der Familie Naumann gelöst wurden und wie hoch dessen Bezüge zukünftig waren, hat er ermittelt.
Eingefügt sind biografische Angaben sowie informative Tabellen zur Partei- und Wirtschaftsentwicklung in der DDR. Das Buch kann partiell auch als Nachschlagewerk genutzt werden.
Seine Quellenbasis bilden vor allem die im Bundesarchiv in Berlin aufbewahrten Akten zur DDR-Geschichte, die Stasi-Unterlagen und die der Staatsanwaltschaft Berlin, die im Zusammenhang mit den Strafverfahren gegen frühere Politbüro-Mitglieder entstanden sind. Gerade den Prozessakten konnte er oft verblüffende Details entnehmen, etwa wenn Partei-Bedienstete, die sich dazu öffentlich nicht geäußert hatten, über den Alltag auf den Führungsetagen und zum Verlauf von Politbüro-Sitzungen berichten.
Über die wirtschaftspolitischen Kontroversen in den 1980er Jahren, speziell zwischen Planungschef Gerhard Schürer und ZK-Sekretär Günter Mittag und ihren Unterstützern ist bereits einiges dokumentiert und berichtet worden. Der wissenschaftliche Wert der vorliegenden Arbeit besteht vor allem darin, dass Malycha detailliert nachzeichnet, wie Honecker zwischen den unterschiedlichen Gruppen im Politbüro und den misstrauischen Beobachtern in Moskau lavierend, versuchte, seine und die Macht der Partei zu wahren und Lösungen für strukturelle Probleme der Planwirtschaft zu suchen, die aber letztlich auch seine Kritiker nicht hatten. Zum Schluss regierte die SED nur noch ratlos zum Ende hin. Die Verantwortlichen an der Spitze, den Eindruck gewinnt man, dürften ihre unfreiwillige Entlassung wohl auch als Erlösung empfunden haben.
Malycha beschreibt quellengesättigt Honeckers interne Herrschaftspraxis, wie er sich kleinere informelle Beratungsgremien neben dem Politbüro schaffte, sich mitunter nur noch mit Mittag berät oder ganz allein entscheidet.(16) Die Kritiker sammeln Argumente, verfassen alarmierende Lageberichte - unterschreiben dann aber doch die vom Parteichef vorgelegten Beschlüsse (265) und lassen ihre Analysen wieder in den Panzerschränken verschwinden (273) oder hüllen sich in Schweigen. Andere heucheln Zustimmung, beschweren sich aber heimlich in Moskau.
Anregend und neu sind nicht zuletzt Malychas Erkenntnisse zum Verhältnis von Partei und Staatssicherheitsdienst. Geschildert wird, wie Erich Mielkes Kontrolleure sich ein eigenes Bild von der wirtschaftlichen Lage im Lande machten, dazu Minister und Generaldirektoren einvernahmen und selber nach Lösungen suchten. Die Stasi sei mehr gewesen als nur "Erfüllungsgehilfe" (274) der Partei und habe ein Herrschaftswissen angesammelt, das offenbar in wichtigen Bereichen über das des Parteiapparates hinausgegangen sein dürfte. Wirtschaftsfunktionäre wie einzelne Politbüro-Kollegen wandten sich an Mielke und baten ihn, etwas gegen Honecker zu unternehmen. Selbst bei der Ausforschung der SED-Führungsebene habe das Ministerium für Staatssicherheit "keine Tabuzonen"(262) gekannt. Auch im ZK-Apparat hatte es seine Informanten und ließ sich regelmäßig berichten. Das Telefon eines Abteilungsleiters, so hatte es Mielke "persönlich"(262) angeordnet, wurde zeitweilig überwacht, auch die anderer prominenter Funktionäre. Kontrollierte der Sicherheitsdienst eher die Partei als umgekehrt? - Malycha ist vorsichtig genug, sich vor solchen Kurzschlüssen zu hüten, macht aber zu Recht, wie zuvor schon sein Chemnitzer Projektkollege Gunter Gerick [4], deutlich, dass bisherige Annahmen zu diesem Verhältnis der kritischen Überprüfung bedürfen.
Als Konkurrenten um die politische Macht brauchte Honecker den Sicherheitsminister nicht zu fürchten. Der beschränkte sich auf die Rolle eines "allwissenden Chronisten"(263). Im Politbüro blieb Mielke stumm.
Malychas Arbeit ist ein Standardwerk zur Geschichte der SED. Sein kritischer Blick auf die Führungsebene macht neugierig auf Untersuchungen aus ganz anderer Perspektive, auf Beiträge zur Alltags- und Sozialgeschichte der SED. Daran arbeiten seine Projektkollegen im ZZF.
Anmerkungen:
[1] Andreas Malycha: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946-1953, Paderborn 2000.
[2] Gemeint ist: Heike Amos: Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949-1963. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat, Münster 2003.
[3] Monika Kaiser: Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997.
[4] Gunter Gerick: SED und MfS. Das Verhältnis der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit 1961 bis 1989, Berlin 2013.
Siegfried Suckut