Rüdiger Frank: Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates, München: DVA 2014, 431 S., 33 Farbabb., ISBN 978-3-421-04641-3, EUR 19,99
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Rüdiger Frank, geboren 1969 in Leipzig, begann im Herbst 1990 mit dem Studium der Koreanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Deren Austauschabkommen mit der Kim-Il-sung-Universität in Pjöngjang ermöglichte es ihm, das Wintersemester 1991/92 an der dortigen Universität zu verbringen. Er hat das Land seither regelmäßig bereist und ist seit 2007 Professor in Wien und einer der wenigen Experten für Nordkorea. Was er zu sagen hat, das hat Gewicht.
Im vorliegenden Band schreibt Frank nicht darüber, wie Nordkorea ist, sondern, wie er betont, "wie es sich mir darstellt". Wie stellte es sich ihm also 1991/92 dar? In der Hauptstadt Pjöngjang fuhren kaum Autos, die wenigen waren in "eher beklagenswertem Zustand, die Reifen bis auf die Karkasse abgefahren, Karosserien verrostet", es gab kein "normales Leben", keinen Alltag, auf Kreuzungen regelten junge Verkehrspolizistinnen den meist nicht vorhandenen Straßenverkehr, auf Bussen waren an jeder Seite Dutzende rote Sterne aufgemalt (jeder Stern stand für 50.000 gefahrene Kilometer), nachts war Pjöngjang dunkel, selbst die Monumente wurden nur an Wochenenden und Feiertagen beleuchtet. Es gab keine Taxis; im Fernsehen nur zwei Staatssender, Fernsehen und Radio aus Südkorea waren nicht zu empfangen; die Menschen auf der Straße waren alle gleich gekleidet und hatten fast alle den gleichen Haarschnitt; das Land war so "grau" wie die DDR (287f.).
23 Jahre später kann Frank nicht anders, "als mit Enthusiasmus über das heutige Erscheinungsbild Nordkoreas zu berichten" (289): Die Zahl der Autos, "zumeist neu und in sehr gutem Zustand", sei nahezu "explodiert", deren Markenvielfalt in Pjöngjang "sogar größer als in Seoul"; Verkehrspolizistinnen "schauen den in großer Zahl montierten Verkehrsampeln bei der Arbeit zu"; es verkehren Straßenbahnen der Marke Tatra - aus Leipzig importiert -, und in der U-Bahn die alten Wagen der Ost-Berliner Linie U 5; Nordkorea sei nun bei Nacht "deutlich heller", Straßenlaternen mit Solarzellen versehen; es gibt Taxis und jede Menge Restaurants und Geschäfte; die Zeiten, in denen alle die gleiche Kleidung trugen, seien "lange vorbei"; 2,5 Millionen Mobiltelefone seien vorhanden, "Tendenz noch immer steigend, mit einer Netzabdeckung von über 90 %", es gibt ein Ski-Resort, eine Bowling-Bahn und die "Moranbong"-Pop-Band. 2012 hatte Frank in einem Geschäft Bananen, "aber keine Schlange von Wartenden" (297) gesehen. Letztere kannte er aus DDR-Zeiten, was nicht verwundert, wurde er doch dort sozialisiert und hat fünf Jahre in Moskau gelebt.
In acht Kapiteln beschreibt Frank die "Innenansichten eines totalen Staates", wobei er immer wieder Vergleiche mit der DDR anstellt: Personenkult gab es auch in der DDR, wenn auch nicht so ausgeprägt wie in Nordkorea; auch die Verfassung war bzw. ist nur auf dem Papier demokratisch; jene von Nordkorea garantiert in Artikel 75 Reisefreiheit und die Freiheit der Wahl des Wohnortes (119); die Realität sieht anders aus; die Einheitskandidaten der Obersten Volksvertretung wurden hier wie dort mit jeweils 99,7 % gewählt; neben der alles entscheidenden Partei der Arbeit Koreas existieren auch andere Parteien - ohne Einfluss. Aber, so Frank, "erneut könnte jedoch das Beispiel der DDR ein Hinweis darauf sein, wie sich dies bei einem Wandel der politischen Verhältnisse ändern könnte" (128). Wenn Frank einen Grund nennen müsste, warum es Nordkorea trotz Hungersnöten, des Todes des Staatsgründers Kim Il-sung 1994 und des Zusammenbruchs der anderen sozialistischen Systeme noch gibt, dann würde er ohne Zögern die Ideologie anführen, "also die Existenz eines omnipräsenten, von Kindesbeinen an gelehrten und allgemein akzeptierten Systems der Weltanschauung mit einem kompromisslosen und umfassenden Wahrheitsanspruch" (51). Dieses System "scheint stark zu sein wie eine Eiche" (223): Der Überwachungsstaat ist omnipräsent, in den Wohnungen hängen die Bilder der Führer, die Menschen marschieren und rufen Losungen, in denen sie ihre Treue und ihre Opferbereitschaft für das System bekunden. Dabei gibt Frank allerdings zu bedenken, dass man an solchen Äußerlichkeiten den Status einer Gesellschaft nicht erkennen kann, und verweist auf die DDR-Feierlichkeiten vom 7. Oktober 1989: jubelndes Volk, zwei Tage später Protest von 100.000 Menschen in Leipzig.
Frank will mit dem weit verbreiteten Vorurteil aufräumen, dass in Nordkorea die Zeit stehen geblieben sei. Es gäbe einige durchaus bemerkenswerte Veränderungen, die im Westen oft zu wenig registriert und anerkannt würden (190). Reformen im Jahre 2002 seien gescheitert. Frank weiß warum: "Ich möchte nicht so weit gehen, zu behaupten, dass die USA die nordkoreanische Reform bewusst verhindert hätten. Geholfen hat Washington aber definitiv nicht." (210)
Das Kapitel über die Sonderwirtschaftszonen ist besonders interessant - in erster Linie Kaesŏng, unmittelbar an der Demarkationslinie, "Goldesel und Risikofaktor" (233) zugleich. Goldesel, weil Kaesŏng dem Norden 100 Millionen US-Dollar jährlich bringt, Risikofaktor, weil die 50.000 armen Arbeiter/innen aus dem Norden täglich den reichen Süden treffen und entsprechende Botschaften im Land verbreiten. Ist der erkennbar gesteigerte Lebensstandard der Weg in den Bankrott? Die Brot-und-Spiele-Politik erinnert Frank an Honeckers "Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik". Am Ende könnte es so wie in der DDR kommen, oder aber der Handlungsdruck werde die Führung zu echten Reformen veranlassen - was Frank hofft, da er beim neuen Führer Kim Jong-un noch "ungenutztes Potential" (269) sieht.
Frank wagt beim Thema Wiedervereinigung einen Blick in die Zukunft und betont mit Nachdruck, wie fragwürdig Vergleiche mit Deutschland sind. Korea ist nicht Deutschland, vor allem ist Nordkorea nicht die DDR. Die Kosten für eine Vereinigung würden ganz anders ausfallen als in Deutschland. Die Sozialkosten würden bedeutend geringer sein, insbesondere bei den Renten, was folgende Zahlen verdeutlichen: Im Jahr 2012 flossen etwa 30 % des deutschen Staatshaushalts in die Renten, Südkorea gab 2014 nur 0,26 % seines Staatshaushalts für Rentner aus, die eine Grundrente von maximal 83 $ pro Monat erhielten. Nordkorea besitzt Bodenschätze, die auf dem Weltmarkt zu hohen Preisen absetzbar wären; sein Handel, so Frank, "wird nach einer Vereinigung nicht kollabieren" (375); der Strukturwandel in der nordkoreanischen Wirtschaft habe zumindest im Hinblick auf den Außenhandel "schon stattgefunden und wird nicht mehr ins Gewicht fallen" (376). Seit 1972 gibt es gemeinsame Konzepte für eine Vereinigung auf der Basis von drei Prinzipien: Unabhängigkeit, d.h. Vereinigung ohne äußere Einmischung; Frieden, d.h. Verzicht auf militärische Mittel; großer nationaler Zusammenschluss, d.h. Nationalismus als Vereinigungsideologie. Auf dem Weg dahin war von einer Konföderation die Rede: eine Nation, ein Land, zwei Systeme. Sinnvoll, so auch Frank, wäre die Vereinigung allemal, die Gründe, warum das nicht schon längst geschehen sei, seien "sowohl innen wie außen zu suchen" (381).
Fazit: Ein kluges, sehr lesenswertes Buch, dessen Autor einen kritischen und zugleich wohlwollenden Blick auf ein Land wirft, das, so wie es sich darstellt und im Westen wahrgenommen wird, "eigentlich nicht sein darf" (13). 32 eindrucksvolle Fotos des Autors auf 16 Farbtafeln - ein Lob dem Verlag - sind dabei eine willkommene Ergänzung.
Rolf Steininger